Bei éclat luden wir zu Abschiedstexten ein. Dies ist die längere und inkohärentere Version dessen, was am Ende dort veröffentlicht wurde:
Am Anfang stand der Apfelmann auf Blumfelds “Verbotene Früchte”, am Ende wurde das Universum zum Spielplatz auf der sechsten “Unter meinem Bett” Kompilation für Kinder. Dazwischen liegen knapp 15 Jahre, etwa 860 Plattenrezensionen, ein paar Konzert- und Festivalberichte und drei Versuche an freieren Textformen.
Manches fand nicht statt, weil das Leben andere Prioritäten setzte. Dazu gehören Texte über Klassiker-Alben, die vor Helga-Rockt- und éclat-mag-Zeiten erschienen, ein Text über die Rolle künstlicher Intelligenz für die populäre Musik, aber auch ein Text über wissenschaftliche Arbeiten. Da war zum Beispiel kürzlich erst eine Veröffentlichung, die untersuchte, warum Musik uns so bewegt, dass wir weinen. die untersuchte, warum Musik uns so bewegt, dass wir weinen. Eine andere Arbeit wiederum beschäftigte sich damit, in welchem Maße Musik universal ist in menschlichen Gesellschaften und in welch diversen Kontexten sie verwendet wird.
Ein solcher Text könnte ungefähr so aussehen, wie das Folgende:
I – Universal Tellerwäscher:in?
Vor knapp 200 Jahren erklärte Henry Wadsworth Longfellow, Musik sei die universale Sprache der Menschheit. Aber ist sie das? Wenn wir die Unterschiede zwischen Kulturen betrachten, kann es wirklich sein, dass es universelle Prinzipien gibt, die alle verbinden? Selbst wenn Musikalität etwas biologisch Menschliches wäre, etwas, das in der Evolution in Verbindung aus Biologie und Wahrnehmung von Klang entstanden ist, scheint die kulturelle Vielfalt gegen die Möglichkeit universeller Prinzipien der Musik zu sprechen.
Die Frage ist also im Kern: Ist die einzige Allgemeingültigkeit, dass die meisten oder sogar alle Kulturen das Prinzip der Musik an sich kennen, oder gibt es weitergehende Eigenschaften, die allen oder vielen Musiken innewohnen? Hat also wütende, glückliche, friedliche, traurige oder ängstliche Musik ähnliche Eigenschaften in sehr verschiedenen Kulturen? Oder haben Tanzmusik, Liebeslieder, Wiegenlieder oder spirituelle Musik ähnliche Charakteristiken weltweit? Studien suggerieren, dass musikalische Formen und assoziierte Emotionen sowie kulturelle Funktionen in verschiedenen kulturellen Kontexten sich ähneln.
Eine sehr umfassende und interessante Arbeit erschien im Herbst 2019. Sie konzentrierte sich auf die Form des Liedes, das heißt Vokalmusik. Basierend auf Beschreibungen von Liedern und ihrer Bedeutung sowie auf Aufnahmen von Liedern untersuchten die Wissenschaftler:innen die vier Liedarten Tanz, Liebe, Wiege und Heilung in einer nahezu repräsentativen Teilmenge menschlicher Kulturen. Zunächst beschäftigtesie aber die Frage, ob Musik in (fast) allen Kulturen ihrer Probe präsent ist, und tatsächlich verfügen wahrscheinlich alle Kulturen über das vokale Lied. Das Lied mag also ein universelles musikalisches Prinzip sein.
Nichtsdestotrotz findet sich eine große Variation zwischen Kulturen, aber auch innerhalb einzelner Kulturen. Die Wissenschaftler:innen fanden drei Eigenschaften, die diese Variationen besonders gut erklären. Das sind einerseits, wie formal ein Lied ist, dann wie stark es die Hörer:innen erregt, und die dritte ist die Religiosität. Mit Bezug auf die vier erwähnten Liedarten konnten die Wissenschaftler:innen zum Beispiel festhalten, dass Heilungslieder generell durch hohe Religiosität, hohe Formalität und hohe Erregung geprägt sind, wohingegen Liebeslieder im Gegenteil in allen drei Eigenschaften niedrig angesiedelt sind. Sie fanden weiterhin, dass Lieder generell ihren eigenen Kategorien ähnlicher sind, als den anderen Kategorien. Weitere Untersuchungen zeigten zudem, dass typische Lieder einer Kategorie zwischen Kulturen weniger unterschiedlich sind als verschiedene Lieder einer Kategorie innerhalb einzelner Kulturen.
Neben formalen Analysen ließen die Wissenschaftler:innen auch eine Vielzahl von Testpersonen, Aufnahmen von Liedern aus verschiedenen Kulturen klassifizieren. Tatsächlich gelang dies so häufig korrekt, dass nicht von Zufall ausgegangen werden kann. Insgesamt deuten die Ergebnisse an, dass es formale akustische Elemente geben muss, die es erlauben, Lieder korrekt den vier Gruppen Tanz, Liebe, Wiege und Heilung zuzuordnen, selbst wenn sie aus verschiedenen Kulturen stammen.
Die Wissenschaftler:innen nehmen an, dass Universalität aus Eigenschaften der menschlichen Psychologie entspringt. Bestimmte rhythmische und melodische Muster werden von dieser universell bevorzugt in Beziehung auf bestimmte Nutzungsformen von Musik.
Die Ergebnisse liefern keine endgültige Antwort darauf, ob Musik universale Eigenschaften hat. Wissenschaftlich betrachtet eröffnen sie aber neue Wege, um zu verstehen, ob es tatsächlich allgemeine Grundlagen gibt, die Musik in Bezug setzen zu unseren menschlichen Emotionen oder sogar zur Rolle von Musik innerhalb menschlicher Gesellschaften. Jenseits dieser wissenschaftlichen Bedeutung der Frage der Universalität von Musik steht diese Frage natürlich auch im Zentrum unserer Interessen hier bei éclat, im Sinne unserer “Liebe zur Musik” und unserer “Liebe zu den Tönen”.
https://science.sciencemag.org/content/366/6468/eaax0868
http://science.sciencemag.org/content/366/6468/944
In den erwähnten 15 Jahren fand Musikkonsum anfangs vor allem auf CD statt und auch wenn andere von CD zu Vinyl umschwangen, erfolgte persönlich der Wechsel hin zur digitalen Datei und widerwillig zum Stream. Musik bestimmt weiter vieles, aber die Intensität der Auseinandersetzung hat sich verringert. Weniges wird häufiger und intensiv gehört. Zu viel Neues wirbt alle Zeit um die Aufmerksamkeit.
Während Spotify behauptet, Musikgenuss und -erfolg zu demokratisieren und dabei doch nur eine Hierarchie zementiert, ist es tatsächlich Bandcamp, das theoretisch jedem:r die Möglichkeit gibt, ihre auditive Kunst den Menschen nahe zu bringen. Die Plattform erlaubt ein endloses Dahinstreifen durch die verschiedenen Genres. Allerdings fordert Bandcamp den Hörer:innen den Willen ab, Geld zu investieren, wohingegen Spotify automatisch beim Hören minimalste Geldbeträge ausschüttet. Das Radio wiederum wurde relegiert. Statt Information und Einblick und Unterhaltung zu liefern, ist es primär Untermalung des beruflichen Pendelns. Es erlaubt einen letzten Einblick in die popmusikalische Chartdynamik und filtert doch auch, was überhaupt davon wahrgenommen wird.
Überhaupt wäre die Art, wie ich, wie wir, wie heute Musik konsumiert wird, einen eigenen Text wert gewesen. Vielleicht so:
II Kulturkonsum
Er stand im Plattenladen, blätterte durch die großen Kisten mit den Platten, schnackte mit der Plattenhändlerin, hörte eine CD Probe, kaufte eine Single und ging.
Sie stand im Second-Hand-CD-Laden, schaute auf die Neuankünfte, kaufte, was interessant klang.
Sie lasen Rezensionen in der ein oder anderen Zeitschrift oder auf der ein oder anderen Webseite, hörten Probe im Stream auf Myspace – und später auf Spotify – und bestellten, was interessant klang.
Dey folgten Bandcamp auf Twitter, lasen die Features auf der Homepage und klickten sich interessiert durch Profile, Tags und Sammlungen, hörten Probe oder auch ganze Alben und wenn es Zeit war, das Portemonnaie zu öffnen, wurde gekauft oder eben auch nicht.
Sie spielte das neueste Game und hörte die Playlist des integrierten “Radio”-Kanals.
Musikkonsum wandelte sich nicht nur, aber auch mit jedem neu erscheinenden Medium, von Wachszylinder zu Schellack zu Vinyl zu Kassette zu CD zu MP3 zu Stream zu Playlist und inklusive der Darreichungsformen Radio, Musikfernsehen, Computer, Mobiltelefon, Game, Onlineexistenz. Musikkonsum und Musikproduktion stehen oder standen dabei potentiell in einem Abhängigkeitsverhältnis. Je mehr Menschen es sich leisten konnten, für den Konsum von Musik zu bezahlen, desto reizvoller wurde die Musik als Beruf. Gleichzeitig wollten aber umso mehr Menschen Musik konsumieren, je mehr Musiker:innen im Rampenlicht standen.
Musikkonsum und Musikrecherche mit Hilfe von Zeitschriften, Blogs, Webseiten und so weiter erforderten Aufmerksamkeit und Zeit. Es ließ sich nicht von jetzt auf gleich entscheiden, welche besprochene Musik nun den eigenen Interessen nahe kam. Es lud zudem ein, sich intensiv mit der Musik, den Texten, mit der musikalischen Kultur zu beschäftigen. So stellte Robot Koch denn im ausgehenden 2020 auf Twitter die verwandte Frage, wann zuletzt Leute sich wirklich tief mit einem Album auseinandergesetzt hätten, wann das Hören einer Platte den Moment vollkommen ausgefüllt habe.
Mit Walkman, Discman und spätestens dem MP3-Player wurde eine kaum hörbare Menge Musik jederzeit verfügbar und das Smartphone stellte nur noch eine kleine Weiterentwicklung dar, in welcher der MP3-Player mit anderen Funktionen kombiniert wurde. Streaming und das erschwingliche Abo-Modell folgte als winziger zusätzlicher Schritt. Dank ihm aber ist nun nicht nur Musik jederzeit überall verfügbar, sondern es ist de facto alle Musik jederzeit überall verfügbar.
Musik ist etwas, dessen Wert durch die Allgegenwart für die Einzelnen entwertet worden sein mag. Im gleichen Maß, in dem Milchbauern sich über die Entwertung der Milch beschweren und Fleischbauern das gleiche für die Fleischwaren tun, mag Musik etwas quasi Essentielles im Leben der Menschen geworden sein, aber ihr Wert oder vielmehr der Wert ihrer Erzeugung wird nicht entsprechend gewürdigt. Während Modelle wie Patreon oder Bandcamp dem individuell finanziell eine Gegenperspektive setzen mögen, lädt auch Bandcamp durchaus zu Schnellkonsum ein und dazu, von Künstler zu Künstler zu hopsen. Dies gilt für die Homepage, aber noch mehr für die App. Allerdings ist Bandcamp vielleicht auch eher nur eine effektive nostalgische Übertragung des Konzepts des Plattenladens in eine digitale Zeit. Es folgt einem Konzept, das vielleicht nur noch für eine ältere Altersklasse relevant ist. Wird dies ausreichen, um musikalische Kultur zu erhalten oder braucht es andere Plattformen? Diese Frage wird immer wieder durch Mat Dryhurst auf Twitter aufgeworfen (@matdryhurst). Dryhurst setzt derzeit offenbar die größte Hoffnung in eine Dezentralisierung des Webs durch web3.
Die intensive Auseinandersetzung mit Musik förderte die Entstehung und die Pflege von musikalischen Szenen und Gemeinschaften. Musik und ihr Konsum förderten ein Zusammengehörigkeitsgefühl, es entstanden individuelle und kulturelle Identitäten.
Musikalische Medien haben sich immer tendenziell dahingehend weiterentwickelt, dass der Konsum der Musik komfortabler wurde. Konsument:innen mussten immer weniger aktiv werden, um Musik zu erfahren.
Man mag behaupten, die Allgegenwart der Musik habe zu einer Demokratisierung der Verfügbarkeit und des Konsums geführt. Zum Beispiel hören “Indie”-Fans und Nerds heute potentiell weit jenseits ihrer traditionellen Felder und Indie hat den Weg tief hinein in eine angenommene Mainstreamkultur gefunden. Demokratisierung hier heißt denn auch, dass Arroganz und elitäres Herabschauen auf andere Identitäten seltener geworden sein mögen. Im Grunde lässt sich sogar behaupten, musikalische oder musik-konsumierende Identitäten hätten an Bedeutung verloren, es habe eine große Angleichung stattgefunden. Heute dienen vermutlich eher Computerspiele, Onlinewelten, Streamingplattformen zur Identitätsstiftung. Musik ist ein Beiwerk. Musik ist toll, aber sie steht nicht im Zentrum.
Die Allgegenwart von Musik und ihr gleichzeitiger Bedeutungsverlust führen auch zu einer veränderten Auseinandersetzung mit ihr. Forenkultur und Austausch in Gemeinschaften wurde abgelöst durch Kommentarspalte einerseits und den direkten Onlineschnack. Gemeinschaft findet sich primär in Form von Anhänger:innenschaften einzelner Künstler:innen.
Es mag sein, dass Musik schon lange nicht mehr die dominante Leitkultur der Subkultur war, dass Sport, Mode, Gaming und so weiter ihr schon länger den Rang abgelaufen haben, und dass nur eine altgewordene Möchtegern-subkulturelle Elite dies noch nicht erkannt hat und noch immer versucht, sich mit Zeitschriften, Blogs, Webzines und Festivals dagegen an zu stemmen. Vielleicht aber ist es tatsächlich eine relativ neue Entwicklung, dass die musikalische Subkultur nur noch eine Beimischung ist, um anderen Subkulturen Distinktion zu verleihen. Egal wie dem sei, wenn dies dazu beiträgt, dass Musik und Kunst weiter finanziert werden, ist diese Entwicklungsubjektiv bedauerlich, aber positiv. Wenn jedoch, was zu befürchten ist, das Streamingmodell zur Verdrängung und Verengung der Produktion von kulturellen Waren führt, dann ist dies ein Verlust, den nicht nur ein kleiner Kreis bedauern sollte. In diesem Sinne nannte Mat Dryhurst auf Twitter Streaming einen industriellen (“industrial strength”) Kulturvernichter.
Mit den Mitteln des Musikkonsums änderte sich auch der Musikgeschmack. Horizonte weiteten sich in manche Richtung und Perspektiven verengten sich an anderen Stellen. Experimentelleres wurde reizvoller, wie auch Poppiges, wohingegen klassischer Indie-Pop und Alternative-Rock an Reiz verloren.
Und was ergab sich jenseits des Nerd-Horizonts?
Die gesamte Zeit gab es keine andere Bundeskanzlerin als Angela Merkel, der atmosphärische Kohlenstoffdioxidgehalt erhöhte sich um etwa 28 Teile pro Million und der DAX verdoppelte sich in etwa. Global wurde Armut – wenn auch nicht übermäßig, so doch kontinuierlich – reduziert. Das Problem der Mangelernährung wurde über einige Jahre erfolgreich angegangen, hat sich aber wohl inzwischen auf hohem Niveau stabilisiert.
Die Freiheit im Netz hat zu einer großen Freiheit des Unwissens und der Misinformation geführt. Nationalismus und Partikularinteressen schwappen in immer größer werdenden Wellen umher. Trump kam und ging vorerst. Das UK hat die EU hinter sich gelassen. Die AfD kam und blieb erstmal. Afghanistan ist noch immer kein sicherer Staat. Der Iran reichert weiter Uran an. Nordkorea bleibt Nordkorea. Die Volksrepublik China kann sich Konzentrationslager leisten, ohne mit ernsten wirtschaftlichen oder politischen Folgen rechnen zu müssen.
Die sozialen Marktwirtschaften fühlen sich in ihren eigenen Grenzen sicher und nur von außen bedroht. Sie erwecken den Eindruck, es würde immer so sicher und behaglich weitergehen wie die letzten Jahre und Jahrzehnte. Sicherheit ist nur wichtig innerhalb der eigenen Grenzen. Die anderen Weltregionen dürfen gerne mit ihren Sorgen fern bleiben.
Alles in allem sind wir älter, haben vielleicht zum Anwachsen der Weltbevölkerung beigetragen, kennen mehr oder andere Musik und andere Menschen und andere Dinge als noch vor 15 Jahren. Wir kommunizieren anders, weniger oder vielleicht auch mehr. Wir erreichten akademische Abschlüsse und erarbeiteten uns Positionen – oder auch nicht. Unser Charakter mag sich geändert haben, unsere Ansichten, unsere Sorgen und unsere Gesundheit auch. Soziale Netze haben sich geändert und wenn eine Gemeinschaft wie éclat endet, werden sie sich weiter verändern, werden Kontakte verloren gehen.
Und doch: Am Ende ist einfach nur Sand durch eine große Uhr geronnen.
Was hier nicht erwähnt wurde, ist das große Bedauern über dieses Ende, das fast eher einer echten Trauer nahe kommt.
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