éclat-mag zum Abschied

Oliver Bothe, licensed under CC by 4.0

Bei éclat luden wir zu Abschiedstexten ein. Dies ist die längere und inkohärentere Version dessen, was am Ende dort veröffentlicht wurde:

Am Anfang stand der Apfelmann auf Blumfelds “Verbotene Früchte”, am Ende wurde das Universum zum Spielplatz auf der sechsten “Unter meinem Bett” Kompilation für Kinder. Dazwischen liegen knapp 15 Jahre, etwa 860 Plattenrezensionen, ein paar Konzert- und Festivalberichte und drei Versuche an freieren Textformen.

Manches fand nicht statt, weil das Leben andere Prioritäten setzte. Dazu gehören Texte über Klassiker-Alben, die vor Helga-Rockt- und éclat-mag-Zeiten erschienen, ein Text über die Rolle künstlicher Intelligenz für die populäre Musik, aber auch ein Text über wissenschaftliche Arbeiten. Da war zum Beispiel kürzlich erst eine Veröffentlichung, die untersuchte, warum Musik uns so bewegt, dass wir weinen. die untersuchte, warum Musik uns so bewegt, dass wir weinen. Eine andere Arbeit wiederum beschäftigte sich damit, in welchem Maße Musik universal ist in menschlichen Gesellschaften und in welch diversen Kontexten sie verwendet wird.

Ein solcher Text könnte ungefähr so aussehen, wie das Folgende:

I – Universal Tellerwäscher:in?

Vor knapp 200 Jahren erklärte Henry Wadsworth Longfellow, Musik sei die universale Sprache der Menschheit. Aber ist sie das? Wenn wir die Unterschiede zwischen Kulturen betrachten, kann es wirklich sein, dass es universelle Prinzipien gibt, die alle verbinden? Selbst wenn Musikalität etwas biologisch Menschliches wäre, etwas, das in der Evolution in Verbindung aus Biologie und Wahrnehmung von Klang entstanden ist, scheint die kulturelle Vielfalt gegen die Möglichkeit universeller Prinzipien der Musik zu sprechen.

Die Frage ist also im Kern: Ist die einzige Allgemeingültigkeit, dass die meisten oder sogar alle Kulturen das Prinzip der Musik an sich kennen, oder gibt es weitergehende Eigenschaften, die allen oder vielen Musiken innewohnen? Hat also wütende, glückliche, friedliche, traurige oder ängstliche Musik ähnliche Eigenschaften in sehr verschiedenen Kulturen? Oder haben Tanzmusik, Liebeslieder, Wiegenlieder oder spirituelle Musik ähnliche Charakteristiken weltweit? Studien suggerieren, dass musikalische Formen und assoziierte Emotionen sowie kulturelle Funktionen in verschiedenen kulturellen Kontexten sich ähneln.

Eine sehr umfassende und interessante Arbeit erschien im Herbst 2019. Sie konzentrierte sich auf die Form des Liedes, das heißt Vokalmusik. Basierend auf Beschreibungen von Liedern und ihrer Bedeutung sowie auf Aufnahmen von Liedern untersuchten die Wissenschaftler:innen die vier Liedarten Tanz, Liebe, Wiege und Heilung in einer nahezu repräsentativen Teilmenge menschlicher Kulturen. Zunächst beschäftigtesie aber die Frage, ob Musik in (fast) allen Kulturen ihrer Probe präsent ist, und tatsächlich verfügen wahrscheinlich alle Kulturen über das vokale Lied. Das Lied mag also ein universelles musikalisches Prinzip sein.

Nichtsdestotrotz findet sich eine große Variation zwischen Kulturen, aber auch innerhalb einzelner Kulturen. Die Wissenschaftler:innen fanden drei Eigenschaften, die diese Variationen besonders gut erklären. Das sind einerseits, wie formal ein Lied ist, dann wie stark es die Hörer:innen erregt, und die dritte ist die Religiosität. Mit Bezug auf die vier erwähnten Liedarten konnten die Wissenschaftler:innen zum Beispiel festhalten, dass Heilungslieder generell durch hohe Religiosität, hohe Formalität und hohe Erregung geprägt sind, wohingegen Liebeslieder im Gegenteil in allen drei Eigenschaften niedrig angesiedelt sind. Sie fanden weiterhin, dass Lieder generell ihren eigenen Kategorien ähnlicher sind, als den anderen Kategorien. Weitere Untersuchungen zeigten zudem, dass typische Lieder einer Kategorie zwischen Kulturen weniger unterschiedlich sind als verschiedene Lieder einer Kategorie innerhalb einzelner Kulturen.

Neben formalen Analysen ließen die Wissenschaftler:innen auch eine Vielzahl von Testpersonen, Aufnahmen von Liedern aus verschiedenen Kulturen klassifizieren. Tatsächlich gelang dies so häufig korrekt, dass nicht von Zufall ausgegangen werden kann. Insgesamt deuten die Ergebnisse an, dass es formale akustische Elemente geben muss, die es erlauben, Lieder korrekt den vier Gruppen Tanz, Liebe, Wiege und Heilung zuzuordnen, selbst wenn sie aus verschiedenen Kulturen stammen.

Die Wissenschaftler:innen nehmen an, dass Universalität aus Eigenschaften der menschlichen Psychologie entspringt. Bestimmte rhythmische und melodische Muster werden von dieser universell bevorzugt in Beziehung auf bestimmte Nutzungsformen von Musik.

Die Ergebnisse liefern keine endgültige Antwort darauf, ob Musik universale Eigenschaften hat. Wissenschaftlich betrachtet eröffnen sie aber neue Wege, um zu verstehen, ob es tatsächlich allgemeine Grundlagen gibt, die Musik in Bezug setzen zu unseren menschlichen Emotionen oder sogar zur Rolle von Musik innerhalb menschlicher Gesellschaften. Jenseits dieser wissenschaftlichen Bedeutung der Frage der Universalität von Musik steht diese Frage natürlich auch im Zentrum unserer Interessen hier bei éclat, im Sinne unserer “Liebe zur Musik” und unserer “Liebe zu den Tönen”.

https://science.sciencemag.org/content/366/6468/eaax0868
http://science.sciencemag.org/content/366/6468/944

In den erwähnten 15 Jahren fand Musikkonsum anfangs vor allem auf CD statt und auch wenn andere von CD zu Vinyl umschwangen, erfolgte persönlich der Wechsel hin zur digitalen Datei und widerwillig zum Stream. Musik bestimmt weiter vieles, aber die Intensität der Auseinandersetzung hat sich verringert. Weniges wird häufiger und intensiv gehört. Zu viel Neues wirbt alle Zeit um die Aufmerksamkeit.

Während Spotify behauptet, Musikgenuss und -erfolg zu demokratisieren und dabei doch nur eine Hierarchie zementiert, ist es tatsächlich Bandcamp, das theoretisch jedem:r die Möglichkeit gibt, ihre auditive Kunst den Menschen nahe zu bringen. Die Plattform erlaubt ein endloses Dahinstreifen durch die verschiedenen Genres. Allerdings fordert Bandcamp den Hörer:innen den Willen ab, Geld zu investieren, wohingegen Spotify automatisch beim Hören minimalste Geldbeträge ausschüttet. Das Radio wiederum wurde relegiert. Statt Information und Einblick und Unterhaltung zu liefern, ist es primär Untermalung des beruflichen Pendelns. Es erlaubt einen letzten Einblick in die popmusikalische Chartdynamik und filtert doch auch, was überhaupt davon wahrgenommen wird.

Überhaupt wäre die Art, wie ich, wie wir, wie heute Musik konsumiert wird, einen eigenen Text wert gewesen. Vielleicht so:

II Kulturkonsum

Er stand im Plattenladen, blätterte durch die großen Kisten mit den Platten, schnackte mit der Plattenhändlerin, hörte eine CD Probe, kaufte eine Single und ging.

Sie stand im Second-Hand-CD-Laden, schaute auf die Neuankünfte, kaufte, was interessant klang.

Sie lasen Rezensionen in der ein oder anderen Zeitschrift oder auf der ein oder anderen Webseite, hörten Probe im Stream auf Myspace – und später auf Spotify – und bestellten, was interessant klang.

Dey folgten Bandcamp auf Twitter, lasen die Features auf der Homepage und klickten sich interessiert durch Profile, Tags und Sammlungen, hörten Probe oder auch ganze Alben und wenn es Zeit war, das Portemonnaie zu öffnen, wurde gekauft oder eben auch nicht.

Sie spielte das neueste Game und hörte die Playlist des integrierten “Radio”-Kanals.

Musikkonsum wandelte sich nicht nur, aber auch mit jedem neu erscheinenden Medium, von Wachszylinder zu Schellack zu Vinyl zu Kassette zu CD zu MP3 zu Stream zu Playlist und inklusive der Darreichungsformen Radio, Musikfernsehen, Computer, Mobiltelefon, Game, Onlineexistenz. Musikkonsum und Musikproduktion stehen oder standen dabei potentiell in einem Abhängigkeitsverhältnis. Je mehr Menschen es sich leisten konnten, für den Konsum von Musik zu bezahlen, desto reizvoller wurde die Musik als Beruf. Gleichzeitig wollten aber umso mehr Menschen Musik konsumieren, je mehr Musiker:innen im Rampenlicht standen.

Musikkonsum und Musikrecherche mit Hilfe von Zeitschriften, Blogs, Webseiten und so weiter erforderten Aufmerksamkeit und Zeit. Es ließ sich nicht von jetzt auf gleich entscheiden, welche besprochene Musik nun den eigenen Interessen nahe kam. Es lud zudem ein, sich intensiv mit der Musik, den Texten, mit der musikalischen Kultur zu beschäftigen. So stellte Robot Koch denn im ausgehenden 2020 auf Twitter die verwandte Frage, wann zuletzt Leute sich wirklich tief mit einem Album auseinandergesetzt hätten, wann das Hören einer Platte den Moment vollkommen ausgefüllt habe.

Mit Walkman, Discman und spätestens dem MP3-Player wurde eine kaum hörbare Menge Musik jederzeit verfügbar und das Smartphone stellte nur noch eine kleine Weiterentwicklung dar, in welcher der MP3-Player mit anderen Funktionen kombiniert wurde. Streaming und das erschwingliche Abo-Modell folgte als winziger zusätzlicher Schritt. Dank ihm aber ist nun nicht nur Musik jederzeit überall verfügbar, sondern es ist de facto alle Musik jederzeit überall verfügbar.

Musik ist etwas, dessen Wert durch die Allgegenwart für die Einzelnen entwertet worden sein mag. Im gleichen Maß, in dem Milchbauern sich über die Entwertung der Milch beschweren und Fleischbauern das gleiche für die Fleischwaren tun, mag Musik etwas quasi Essentielles im Leben der Menschen geworden sein, aber ihr Wert oder vielmehr der Wert ihrer Erzeugung wird nicht entsprechend gewürdigt. Während Modelle wie Patreon oder Bandcamp dem individuell finanziell eine Gegenperspektive setzen mögen, lädt auch Bandcamp durchaus zu Schnellkonsum ein und dazu, von Künstler zu Künstler zu hopsen. Dies gilt für die Homepage, aber noch mehr für die App. Allerdings ist Bandcamp vielleicht auch eher nur eine effektive nostalgische Übertragung des Konzepts des Plattenladens in eine digitale Zeit. Es folgt einem Konzept, das vielleicht nur noch für eine ältere Altersklasse relevant ist. Wird dies ausreichen, um musikalische Kultur zu erhalten oder braucht es andere Plattformen? Diese Frage wird immer wieder durch Mat Dryhurst auf Twitter aufgeworfen (@matdryhurst). Dryhurst setzt derzeit offenbar die größte Hoffnung in eine Dezentralisierung des Webs durch web3.

Die intensive Auseinandersetzung mit Musik förderte die Entstehung und die Pflege von musikalischen Szenen und Gemeinschaften. Musik und ihr Konsum förderten ein Zusammengehörigkeitsgefühl, es entstanden individuelle und kulturelle Identitäten.

Musikalische Medien haben sich immer tendenziell dahingehend weiterentwickelt, dass der Konsum der Musik komfortabler wurde. Konsument:innen mussten immer weniger aktiv werden, um Musik zu erfahren.

Man mag behaupten, die Allgegenwart der Musik habe zu einer Demokratisierung der Verfügbarkeit und des Konsums geführt. Zum Beispiel hören “Indie”-Fans und Nerds heute potentiell weit jenseits ihrer traditionellen Felder und Indie hat den Weg tief hinein in eine angenommene Mainstreamkultur gefunden. Demokratisierung hier heißt denn auch, dass Arroganz und elitäres Herabschauen auf andere Identitäten seltener geworden sein mögen. Im Grunde lässt sich sogar behaupten, musikalische oder musik-konsumierende Identitäten hätten an Bedeutung verloren, es habe eine große Angleichung stattgefunden. Heute dienen vermutlich eher Computerspiele, Onlinewelten, Streamingplattformen zur Identitätsstiftung. Musik ist ein Beiwerk. Musik ist toll, aber sie steht nicht im Zentrum.

Die Allgegenwart von Musik und ihr gleichzeitiger Bedeutungsverlust führen auch zu einer veränderten Auseinandersetzung mit ihr. Forenkultur und Austausch in Gemeinschaften wurde abgelöst durch Kommentarspalte einerseits und den direkten Onlineschnack. Gemeinschaft findet sich primär in Form von Anhänger:innenschaften einzelner Künstler:innen.

Es mag sein, dass Musik schon lange nicht mehr die dominante Leitkultur der Subkultur war, dass Sport, Mode, Gaming und so weiter ihr schon länger den Rang abgelaufen haben, und dass nur eine altgewordene Möchtegern-subkulturelle Elite dies noch nicht erkannt hat und noch immer versucht, sich mit Zeitschriften, Blogs, Webzines und Festivals dagegen an zu stemmen. Vielleicht aber ist es tatsächlich eine relativ neue Entwicklung, dass die musikalische Subkultur nur noch eine Beimischung ist, um anderen Subkulturen Distinktion zu verleihen. Egal wie dem sei, wenn dies dazu beiträgt, dass Musik und Kunst weiter finanziert werden, ist diese Entwicklungsubjektiv bedauerlich, aber positiv. Wenn jedoch, was zu befürchten ist, das Streamingmodell zur Verdrängung und Verengung der Produktion von kulturellen Waren führt, dann ist dies ein Verlust, den nicht nur ein kleiner Kreis bedauern sollte. In diesem Sinne nannte Mat Dryhurst auf Twitter Streaming einen industriellen (“industrial strength”) Kulturvernichter.

Mit den Mitteln des Musikkonsums änderte sich auch der Musikgeschmack. Horizonte weiteten sich in manche Richtung und Perspektiven verengten sich an anderen Stellen. Experimentelleres wurde reizvoller, wie auch Poppiges, wohingegen klassischer Indie-Pop und Alternative-Rock an Reiz verloren.

Und was ergab sich jenseits des Nerd-Horizonts?

Die gesamte Zeit gab es keine andere Bundeskanzlerin als Angela Merkel, der atmosphärische Kohlenstoffdioxidgehalt erhöhte sich um etwa 28 Teile pro Million und der DAX verdoppelte sich in etwa. Global wurde Armut – wenn auch nicht übermäßig, so doch kontinuierlich – reduziert. Das Problem der Mangelernährung wurde über einige Jahre erfolgreich angegangen, hat sich aber wohl inzwischen auf hohem Niveau stabilisiert.

Die Freiheit im Netz hat zu einer großen Freiheit des Unwissens und der Misinformation geführt. Nationalismus und Partikularinteressen schwappen in immer größer werdenden Wellen umher. Trump kam und ging vorerst. Das UK hat die EU hinter sich gelassen. Die AfD kam und blieb erstmal. Afghanistan ist noch immer kein sicherer Staat. Der Iran reichert weiter Uran an. Nordkorea bleibt Nordkorea. Die Volksrepublik China kann sich Konzentrationslager leisten, ohne mit ernsten wirtschaftlichen oder politischen Folgen rechnen zu müssen.

Die sozialen Marktwirtschaften fühlen sich in ihren eigenen Grenzen sicher und nur von außen bedroht. Sie erwecken den Eindruck, es würde immer so sicher und behaglich weitergehen wie die letzten Jahre und Jahrzehnte. Sicherheit ist nur wichtig innerhalb der eigenen Grenzen. Die anderen Weltregionen dürfen gerne mit ihren Sorgen fern bleiben.

Alles in allem sind wir älter, haben vielleicht zum Anwachsen der Weltbevölkerung beigetragen, kennen mehr oder andere Musik und andere Menschen und andere Dinge als noch vor 15 Jahren. Wir kommunizieren anders, weniger oder vielleicht auch mehr. Wir erreichten akademische Abschlüsse und erarbeiteten uns Positionen – oder auch nicht. Unser Charakter mag sich geändert haben, unsere Ansichten, unsere Sorgen und unsere Gesundheit auch. Soziale Netze haben sich geändert und wenn eine Gemeinschaft wie éclat endet, werden sie sich weiter verändern, werden Kontakte verloren gehen.

Und doch: Am Ende ist einfach nur Sand durch eine große Uhr geronnen.

Was hier nicht erwähnt wurde, ist das große Bedauern über dieses Ende, das fast eher einer echten Trauer nahe kommt.

Oliver Bothe, licensed under CC by 4.0

Bwana – Capsule’s Pride

Nimm den Soundtrack zu einem Anime und editiere, mixe und verändere ihn so, dass Du ihn Dir zu eigen machst. Was im Regelfall vermutlich eher ziemlich dürftige Ergebnisse hervorbringen wird, gelingt Bwana aka Nathan Micay und resultiert in einer der besten Platten des Jahres 2016. Sein Album “Capsule’s Pride” ist weder Hommage an noch Remix des Soundtracks zu “Akira”, sondern Bwana schafft hier etwas vollkommen Neues, ohne aber den Ursprung des Materials unter den Teppich zu kehren.

Den Bezug zum Original sichern vor allem die immer wieder eingestreuten Vokal-Samples aus Synchronisation oder Urfassung, aber Kenner des Soundtracks finden auch in den Stücken immer wieder Elemente des Originals. Die Dialog-Samples geben den Stücken und dem Album einerseits einen Hauch des Kitschigen, verleihen ihm aber vor allem auch eine zusätzliche Schwere, setzen ihn in einen Kontext, der den Stücken sonst fehlen würde. Auch wenn “Capsule’s Pride” in gewissem Sinn ein Konzeptalbum ist, beeinflusst das Konzept nicht, wie man das Album zu hören hat, oder ob man es genießen kann.

Das Titelstück “The Capsule’s Pride (Bikes)” setzt als Albumeröffnung einerseits die Stimmung und liefert andererseits auch gleich einen der Höhepunkte der Platte. Elliptische Drum-Schleifen, hektisch treibende Beats und vibrierend flimmernde Soundelemente verbreiten eine energiegeladene und doch latent paranoide Atmosphäre. Ebenso intensiv und in seiner hektischen Perkussivität vielleicht noch besser erklingt später “The Colonel’s Mistake, The Scientist’s Regret”. Entspannter und gleichzeitig in ähnlichem Maße intensiv erklingt zum Albumabschluss das fast altmodisch anmutende “Tetsuo’s Dance”

Micays Produktionen als Bwana wechseln auf dieser Platte zwischen House, Ambient und Techno. So Beat-gesteuert die Stücke zum Teil auch sein mögen, steht doch immer die Atmosphäre im Mittelpunkt dank Micays Talent, ambiente Flächen und treibendere Arrangements perfekt miteinander zu verschmelzen.

“Capsule’s Pride”s Qualität ist nicht zuletzt Shoji Yamashiros Ausgangs- und Inspirationsmaterial geschuldet. Aber es braucht dennoch Micays Gespür für das Spiel mit Rhythmen, Klangstrukturen und Klangfarben, um Stücke zu schaffen, die so gefangen nehmen wie zum Beispiel “Nightfall In Neo-Tokyo” oder das unstrukturiert dystopische “Failed Escape (Where You Belong)”. Ebenfalls eher unstrukturiert erscheint zunächst “Akira’s Light”, entwickelt aber schnell eine außergewöhnliche Sogwirkung, die begründet liegt im Wechselspiel aus sphärischen Flächen im Hintergrund und den verschiedenen hektisch rhythmischen Elementen im Vordergrund.

Die Kombination aus Nathan Micays Talent, den Dialogschnipseln aus “Akira” und Shoji Yamashiros Originalsoundtrack machen aus “Capsule’s Pride” eine faszinierende und ungemein unterhaltsame Platte, die am einfachsten als Techno zu klassifizieren ist und doch darüber hinaus geht. Bwanas “Capsule’s Pride” taugt zum intensiven Kopfkino ebenso wie zum entspannten Nebenher-Genießen. Es mag kein großes Meisterwerk sein, es ist aber eine ungemein unterhaltende Platte ohne jedwede Ermüdungstendenzen.

Tiga – No Fantasy Required

Dieser Tage erscheinen zwei Alben, die eigentlich schon vor geraumer Zeit hätten erwartet werden können. Einerseits ist da Baauers „Aa“, das vier Jahre nach dem „Harlem Shake“ erscheint. Andererseits ist da Tigas drittes Studioalbum „No Fantasy Required“. Sieben Jahre sind seit dem Vorgänger „Ciao!“ vergangen, und seine umjubelte DJ Kicks erschien bereits 2002.

Es ist viel passiert in der elektronischen Musik in den 2010er Jahren, aber Tiga zeigt sich auf „No Fantasy Required“ wenig beeindruckt davon. Das Album hätte in ähnlicher Form wahrscheinlich auch 2002 funktioniert. Das ließe sich dahingehend lesen, dass Tiga auf dem Melt-Festival eben jenen Jahres hängengeblieben sei. Aber ganz so ist es dann nicht.

„No Fantasy Required“ ist eher ein zeitloses Album. Der präsentierte Electro- oder vornehmlich House-Pop funktioniert heute genauso gut wie in den Hochzeiten des Electroclash und -pop zu Beginn dieses Jahrtausends. Es ist uneingeschränkt unterhaltsam, tanzbar und gut. Vielleicht trägt zum Gewinnen des Albums auch bei, dass es sich so klar kategorisieren lässt, die Songs keine offenkundigen Gemeinsamkeiten haben, außer dass sie geschickt zusammenpassen.

Anteil am Gelingen der Platte haben auch Matthew Dear sowie Jake Shears. Dear half bei einigen Stücken bei der Produktion, Scissor-Sisters-Kopf Shears singt auf „Make Me Fall In Love“. Weitere Zusammenarbeiten entstanden mit Paranoid London und Hudson Mohawke.

Natürlich lassen sich die mindestens idiotischen, im schlimmsten Fall machohaften Texte der Stücke nicht vollkommen ausblenden. Es wäre auch unangebracht, den Machismo dahingehend zu entschuldigen, er gehöre halt zu dieser Musik teilweise dazu. Allerdings lässt sich durchaus argumentieren, der Zweck sei gerade, dies lächerlich zu machen. Aber nicht nur dann lassen sich die Texte zumeist gut ignorieren. Im Kern steht die Musik, und die überzeugt.

Tigas „No Fantasy Required“ ist ein tanzbar poppiges Album, das einfach zum Bewegen einlädt. Es kann durchaus passieren, während die Kopfhörer die Platte ins Ohr lassen, dass man auf der Straße anfängt zu tanzen. Die komischen Blicke der Mitmenschen muss man halt aushalten.

Katy B – Honey

Katy B ist nicht erst seit diesem Jahr eine feste Größe der britischen Klubmusik zwischen Garage, Twostep, R’n’B und Drum’n’Bass. Ähnlich vielseitig präsentiert sich auch ihr nunmehr drittes Studioalbum “Honey” und vermag dennoch als Album nicht zu überzeugen.

Unter der Vielzahl an Produzenten an Katy Bs Seite finden sich zum Beispiel solch Namen wie Major Lazer, Craig David, Four Tet oder Floating Points. Dazu gesellen sich 18 weitere. Es ließe sich jetzt sagen, zu viele Köche würden den Brei verderben, doch das ist nicht wirklich das Problem der Platte.

Katy B präsentiert auf “Honey” dreizehn Tracks, die alle als Hit taugen, die dazu mal mehr, mal weniger clubtauglich sind, die in ihrer Qualität nur geringfügig schwanken. Es ist eine lose Sammlung von Nummern, die keinerlei inneren Zusammenhalt hat, die stilistisch alle irgendwo in der britischen Bassmusik verortet werden können, selbst wenn es sich um Balladen handelt. Katy Bs Gesang ist wie immer erfreulich, aber auf Dauer doch wenig variabel und somit eher unspannend. Hinzu kommt, dass ihre Stimme, so gut und wiedererkennbar sie eigentlich ist, nicht wirklich ein Alleinstellungsmerkmal besitzt, das einen sofort aufhören lässt. Ähnliches lässt sich weitgehend auch von Beats und Produktionen schreiben. Sie erscheinen häufig eher nach Schema F gebaut. Arrangements und Songstrukturen lassen einen dauernd das Gefühl haben, das sei doch nicht neu, sondern altbekannt.

Es mag sein, dass viele der Nummern auf “Honey” im Clubkontext deutlich besser funktionieren, dass sowohl Beats wie auch Stimme dort Emotionen effektiver auslösen. Als Album aber, in dieser Aneinanderreihung von Stücken, ist es eher unspektakulär und erfordert fast eine Kraftanstrengung, es durchzuhören. Der Platte fehlt jedweder innere Spannungsbogen.

Die Musik, die Katy B und ihre Mitstreiter auf “Honey” präsentieren, ist nicht schlecht. Ganz im Gegenteil ist sie durchaus auf hohem Niveau produziert. Sie klingt aber allzu vertraut. Diese Nummernrevue besitzt keinerlei roten Faden. Gute Tracks machen leider kein gutes Album. Es lohnt sich, Katy Bs neue Stücke zu hören, aber nicht an einem Stück, sondern verteilt über eine zufällig zusammengestellte Wiedergabeliste ähnlicher Künstler.

Jessy Lanza – Oh No

Jessy Lanza und ihr Debütalbum “Pull My Hair Back” gehörten zu den Kritikerlieblingen des Jahres 2013. Geschrieben zusammen mit Junior Boy Jeremy Greenspan, verband es alternativen R’n’B mit Synthesizerpop und erschien auf dem (ersten) Höhepunkt der Alternative-R’n’B-Welle. Der Nachfolger wurde Anfang des Jahres mit dem Song “It Means I Love You” angekündigt und versetzte manche Fans und Kritiker in sofortige Verzückung. Auch bei dem “Oh No” betitelten Zweitling stand Jessy Lanza ihr Landsmann Greenspan bei der Produktion zur Seite.

Auf “Oh No” präsentiert Lanza erneut einen ansteckenden Synthpop, der einmal mitreißt, ein andermal verstört und sich in wieder anderen Momenten als pulsierender elektronischer R’n’B verkleidet. All dies vereint sich unter Lanzas Stimme, die hauchend zärtlich über den Stücken schweben kann, rauchig zurückgenommen zu uns spricht oder aber auch verzerrt den Stücken ihre Magie verleiht.

Jessy Lanzas Stimme hinterlässt zwiespältige Eindrücke. Sie erscheint weder besonders wohlklingend noch besonders kräftig, sie ist aber wandlungsfähig genug, um das Interesse zu erhalten und insbesondere den Stücken ihre ganz eigene Magie zu verleihen. Dennoch erscheint sie vielfach ‘unterproduziert’ im Vergleich zu den perfektionistischen, einmal atmosphärisch dichten, dann aber auch rhythmisch mitreißenden Beats und Instrumentalproduktionen. So stellt sich immer wieder die Frage, ob das Hitpotential der Produktionen mit einer anderen Stimme nicht besser zur Geltung käme, und ob Lanza mit weniger perfekten Produktionen oder (noch) kantigeren Stücken nicht noch mehr den Hörer verzaubern könnte. Andererseits lässt sich nicht verleugnen, dass es vielfach dieser Gegensatz zwischen Stimme und Produktion ist, der den Reiz der präsentierten Tracks ausmacht.

In gewissem Sinne ist Jessy Lanza die Annie für die Postdubstep-Ära. Andererseits lässt sie sich wohl eher in eine Liga mit Grimes stellen, in der Beziehung, wie diese zwischen Pop und ätherischem Gesang und abstrakten Produktionen wechselt – wobei Lanza deutlich weniger auf den ganz großen Pop schielt.

Im Vergleich zum Gesamtwerk “Oh No” täuschen die vorab präsentierten Stücke. Wenig auf dem Album ist so hüpfend, mitreißend und verspielt wie “It Means I Love You” oder so versponnen tanzbarer Elektropop wie “VV Violence”. Zwar winden sich ähnliche Elemente immer mal wieder durch und in die weiteren Stücke, doch der Großteil ist verschroben, experimenteller und introvertierter.

Jessy Lanzas Zweitling mag an manch einer einfach vorbeiplätschern. Andere wiederum werden sich vermutlich vollkommen in “Oh No” verlieren können. In jedem Fall ist es ein gutes Album, dem eine Chance sich zu geben lohnt. Ob man sich dann eher auf die paar hit-artigen Stücke konzentriert oder in den obskureren Momenten schwelgt oder sich gar gelangweilt fühlt, wird sich zeigen.

Beyoncé – Lemonade

Es verlockt, Beyoncés sechstes Album “Lemonade” als autobiographische Beschreibung der vergangenen Jahre ihrer Ehe mit Jay-Z zu deuten. Viele Besprechungen gehen diesen Weg, und es scheint auch naheliegend, dass zumindest ein kleines Körnchen Realität hier verarbeitet wird. Der Titel wiederum verweist auf jene Weisheit, dass, wenn das Leben dir Zitronen gibt, du am besten Limonade machst.

Unabhängig davon weisen Äußerungen von Hörer_innen auf Twitter darauf hin, dass manch einem/r Partner_in seit Veröffentlichung der Platte alte und neue Verfehlungen – zu Recht – erneut vorgehalten werden. Beyoncés Mittelfinger-, Lieb-Dich-doch-selbst-, Du-hast-mich-eigentlich-gar-nicht-verdient-Texten sei Dank. “Lemonade” als Gesamtwerk inklusive Botschaft und zugehörigem Film zu betrachten, dürfte aber seine Bedeutung überschätzen. Am Ende des Tages ist es vor allem ein Album voller Musik. Die Musik wiederum reicht von HipHop und R’n’B über Bluesrock bis Country und Reggae und vermag zu begeistern.

Die Liste der Mitwirkenden ist lang und ehrlich. Selbst kleine Beiträge und Inspirationen von Ezra Koenig, Joshua Tillman und Animal Collective werden gewürdigt. Darüber hinaus tragen aber auch Jack White, James Blake und The Weeknd neben den üblichen Verdächtigen wie Diplo, Boots oder Just Blaze zum Gelingen der Platte bei. Wichtigster Bestandteil ist aber natürlich Beyoncés Gesang.

Die Vielfalt ihrer Stimme hat Frau Knowles-Carter in der Vergangenheit zu Genüge bewiesen. Sie schafft es aber auf “Lemonade” trotzdem, neue Facetten zu zeigen. Dennoch findet sich – vor allem zur Mitte des Albums – ausreichend Standard-Beyoncé-R’n’B. “Love Drought” ist das beste Beispiel für eine eher seichte Ballade, die aufgrund ihrer Melancholie doch nicht zum Radiohit taugt. Diese melancholische Stimmung fängt die von Kevin Garrett produzierte Albumeröffnung “Pray You Catch Me” deutlich besser ein, vielleicht nicht zuletzt dank James Blakes Beitrag. Vordergründig ähnlich erklingt “Sandcastles”, ist aber im Kern eine Gospel- und Jazz-Gesang-infizierte Nummer, die durch die Trauer in Beyoncés Vortrag zu berühren vermag.

Die erwähnten Stücke mögen typisch für Beyoncé sein, aber insbesondere “Sandcastles” weiß die Hörer_innen zu überzeugen. Die ebenfalls nicht unbedingt Beyoncé-untypische Eröffnung mit “Pray You Catch Me” führt zudem auf die falsche Fährte, denn gleich danach folgt das Set an Stücken, das für das Gelingen der Platte essentiell ist. “Hold Up” ist eine leicht karibisch angehauchte Ballade, in deren Zentrum das Motiv aus Andy Williams‘ „Can’t Get Used To Losing You“ steht. Es erstaunt, zu welch diskreten Produktionen Diplo in der Lage ist und wie effektiv er das Stakkato des erwähnten Motivs in Szene setzt. Von diesem Albumhighlight geht es direkt weiter zum nächsten. Beyoncés Gesang gepaart mit dem Jack Whites machen aus “Don’t Hurt Yourself” ein erstaunliches Stück wütenden Bluesrock-R’n’Bs. Es mag recht typisch für Jack Whites Schaffen sein, aber Beyoncé vermag ihm ihren ganz eigenen Stempel aufzudrücken. Im Vergleich zu diesen beiden Stücken fallen die cluborientierte Schlussmach-Nummer “Sorry” und das The-Weeknd-Feature “6 Inch” zwar – leicht – ab, aber das erlaubt es, sich auf das vorzubereiten, was folgt. Auf “Daddy Lessons” verbinden Beyoncé und Mitstreiter ihr Alleinstellungsmerkmal – ihre Stimme – mit Country. Was abschreckend klingen mag, entwickelt sich zu einem Höhepunkt eines an solchen reichen Albums. Es bricht auch die eher melancholische Grundstimmung der Platte leicht auf.

Der Meister des melancholisch trauernden und tragischen Vortrags und der ebensolchen Inszenierung ist heutzutage sicherlich James Blake. Dessen Miniatur “Forward” leitet den vorwärtsgewandten, abschließenden Teil der Platte ein. So zerbrechen Beyoncé und Kendrick Lamar mit ihrem aggressiven Vortrag Ketten in “Freedom”, und die Kraft, die das Album-abschließende “Formation” ausstrahlt, ist bereits seit dem 2016er Superbowl bekannt.

Begleitender Film, Reflektion der eigenen Lebensumstände und überraschende Veröffentlichung auf Tidal sind alles Punkte, die Beyoncés “Lemonade” Aufmerksamkeit verschaffen. Am meisten Beachtung verdient jedoch die Vielfalt der Musik auf der Platte. Wo dies wie ein wildes Sammelsurium wirken mag, ergibt es hier dank Beyoncés Gesang und dem gelungenen Gesamt-Arrangement der Platte ein Album, das in seiner Gänze wie in der großen Mehrzahl seiner Teile fast vollständig überzeugt.

Rufus Wainwright – Take All My Loves: 9 Shakespeare Sonnets

Zeitnah zu Shakespeares 400. Todestag veröffentlicht Rufus Wainwright eine Vertonung von neun Shakespeare-Sonnetten unter dem Titel “Take All My Loves”. Zeitnah zum 90. Geburtstag von Königin Elizabeth II posiert Wainwright als Königin Elizabeth I auf dem Cover zu eben dieser Platte.

“Take All My Loves” erscheint auf der Deutschen Grammophon und passt hervorragend zu deren Bemühen, Klassik und Pop zusammenzubringen. Gesang zu Wainwrights Kompositionen steuern unter anderem Florence Welch und Martha Wainwright bei. Zu Musikstücken gesellen sich Rezitationen durch unter anderem William Shatner, Carrie Fisher und Helena Bonham Carter. Insgesamt finden sich sechs reine Rezitationen, acht Gesangsvorträge und zwei Stücke, die Rezitation und Gesang verbinden.

Die Rezitationen, ob musikalisch untermalt oder nicht, haben ihren Reiz ebenso wie die Stücke mit Martha Wainwrights, Rufus Wainwrights oder Florence Welchs Gesang. Die größte Stärke von “Take All My Loves” jedoch ist die Sopranistin Anna Prohaska. So wird diese Platte vor allem unter Klassikfreunden Abnehmer finden. Prohaskas Sopran, Wainwrights Komposition und das BBC Symphony Orchestra geben Stücken wie “When Most I Wink (Sonnet 43)” und dem Album als Ganzem ihren Reiz. Insbesondere die Intensität von Komposition und Prohaskas Vortrag in “A Woman’s Face (Sonnet 20)” stechen hervor. Das soll nicht den Charme anderer Stücke reduzieren, doch die proto-klassischen Interpretationen auf “Take All My Loves” sind eine Klasse besser als zum Beispiel ein eher typisches Wainwright-Stück wie der Titeltrack nach Sonnet 40.

Andererseits besticht unter den Pop-Nummern besonders “Unperfect Actor (Sonnet 23)”. Das ‘rockigste’ Stück der Platte gemahnt in seiner treibenden Inszenierung an PJ Harvey oder Patti Smith. Aber selbst hier fügt Fiora Cutlers klassisch geschulter Gesang eine Klassik-Komponente bei. Zu Pop und Klassik kommt mit “All Dessen Müd (Sonnet 66)” noch Kunstmusik. Christopher Nell und Jürgen Holtz geben dieser quasi-Weill’schen Nummer ihren speziellen Charakter.

Pop, Klassik, Rezitation und Avantgarde finden sich alle auf Rufus Wainwrights “Take All My Loves”. Als Würdigung Shakespeares durch Wainwright ist die Platte in erster Linie ein künstlerisches Statement. In ihrer Vielfältigkeit, in ihrer Außergewöhnlichkeit ist sie jedoch auch eine faszinierende Platte im weiten Feld des Pop. Tatsächlich ist dieses Album überaus hörbar und nicht nur im Sinne von interessanter Kunst, sondern auch im Sinne von toller Musik.

Milton Bradley – Tragedy Of Truth

Elektronische Musik, sei es Techno, Dubstep, House, etc., hat manchmal den Effekt, dass die Hörerin sich fühlt, als tauche sie vollkommen in die Musik ein, als sei der Klang eine Flüssigkeit, die sie vollkommen umschließe. Subjektiv betrachtet erzeugt gute elektronische Musik, wenn sie nicht gerade allein auf die hedonistische Ekstase abzielt, immer diesen Eindruck. Je stärker die Musik dies erzielt, desto besser ist sie. Milton Bradley gelingt es auf seinem Album “Tragedy of Truth” häufig, die Hörenden vollständig im Klang versinken zu lassen.

Die Klangästhetik von Bradleys Techno auf dieser Platte ist dunkel und minimalistisch. Sie ließe sich daher durchaus als typisch berlinesk bezeichnen. Allerdings ist es in keiner Weise das Wiederaufwärmen eines inzwischen potentiell totgerittenen Konzepts. Auch wenn die Musik hier zumeist nicht wirklich ambiente Elemente aufweist, so erzeugen die Arrangements mittels zum Beispiel komplexerer repetitiver Muster und einerseits der Verwendung und andererseits der Simulation von Hall und Echo einen Charakter und eine Intensität, wie sie atmosphärisch von guter Ambient-Musik geboten werden können. Eine andere stärkende Eigenschaft von “Tragedy Of Truth” ist die Art, in der Bradley streckenweise die Rhythmik der Tracks scheinbar noch einmal mehr in den Mittelpunkt stellt, als es im Genre eh üblich ist. Diese gelegentliche vollkommene Konzentration auf den Kern des musikalischen Stils und der Musik erzeugt eine außergewöhnliche Intensität der Tracks.

“Tragedy Of Truth” von Milton Bradley ist keine Revolution der elektronischen Musik. Bradley macht wenig anders als seine Kollegen. Er nutzt ähnliche Techniken und erzeugt ähnliche Stimmungen. Dennoch schafft er es so, ein Album zu produzieren, das in sich geschlossen scheint und es den Hörenden erlaubt, darin vollkommen aufzugehen. “Tragedy Of Truth” als Album befriedigt sowohl intellektuell als auch psychisch. Bradleys Musik erzeugt auf dieser Platte Spannung im Hörer, die zuvorderst emotional wirkt und emotional aufgelöst werden muss, die aber körperlich wirken kann, wenn der Hörer es denn wünscht.

Babyfather – BBF hosted by DJ Escrow

Dean Blunt ist Babyfather – oder zumindest ein Teil von Babyfather. Nach der von Arca produzierten Single „Meditation“, dem Mixtape „Platinum Tears“ und einem unbetitelten Zip ist „BBF hosted by DJ Escrow“ das erste Album des Projekts Babyfather – wobei Zweifel berechtigt sind, ob es wirklich ein Album ist, doch es mangelt an einem besseren Begriff. Blunt kooperiert hier unter anderem mit Micachu und Arca.

Im Kern der Platte steht die Zeile „This Makes Me Proud To Be British“. Diese wird im „Stealth Intro“ über fünf Minuten und in „Stealth“ und „Stealth Outro“ erneut über geraume Zeit kontinuierlich wiederholt. Der normale Mensch hört dies einmal und danach nie wieder. Es wäre aber falsch, hier die Platte schon in den Mülleimer zu treten, obwohl sich mit dem Rückkopplungslärm in „PROLIFIC DEAMONS“ und „Flames“ weiteres Unhörbares auf „BBF“ findet.

Schon das Cover mit Londoner Skyline und mit Union Jack lackiertem Hoverboard lässt stutzen. „Stealth“, „Stealth Intro“ und „Stealth Outro“ verstärken die Verwirrung. Aber die Platte beantwortet in keinem Moment die aufkommende Frage, was Babyfather uns mit diesem britischen Nationalstolz sagen will. Besonders als nicht gebürtig englischsprachiger Hörer erscheint es, als könne dies nur ironisch interpretiert werden – aber ob dem so ist, bleibt über 23 Tracks und 50 Minuten unklar.

Blunt – oder das Projekt Babyfather – tut auf „BBF“ drei Dinge. In erster Linie finden sich hier Dub und HipHop, die manchen an Bristol-TripHop denken lassen dürften, die aber vor allem den Klang des amerikanischen WordSound-Labels heraufbeschwören. Anspruch, Vielfalt und Qualität der Nummern erinnern an WordSounds „Shake The Nations“-Compilation aus dem Jahr 1997. Darüber hinaus aber lässt die Platte den Hörer – zweitens – voller Unverständnis zurück. Viele Hörer dürften verführt sein, eine (politische) Botschaft zu suchen. Diese ist wahrscheinlich tatsächlich beabsichtigt, sie bleibt jedoch unkenntlich. Selbst die abschließende „Message“ macht den Sinn nicht klar. So ist es am naheliegendsten, „BBF“ – drittens – als musikalisches Kunstwerk zu interpretieren. Die dümmste Frage, die man einem Künstler stellen kann, ist die Bitte, sein Werk zu erklären – und doch wäre es äußerst hilfreich, wenn man Blunt fragen könnte, was zum Henker er mit „BBF“ sagen möchte.

Babyfather provoziert die Hörer. „BBF hosted by DJ Escrow“ ist im schlimmsten Fall ein (April-)Scherz, den sich Blunt und sein Label Hyperdub auf Kosten der HipHop-, Dub- und Bassmusik-Genres, der Industrie und der Hörerinnen erlauben. Im besten Fall ist es ein Kunstwerk, das im Sinne von Beuys‘ Fettecke zu werten ist. Wahrscheinlich aber ist es einfach eine mittelmäßige Platte, die einzelne ziemlich gute Momente aufzuweisen hat – und „Momente“ meint wirklich Augenblicke, nicht einmal ganze Tracks.

Nevermen – Nevermen

Wie klingt die Mischung aus TV On The Radio, Themselves und Mike Patton? Sie klingt, wie Nevermen klingen. Tatsächlich ist das eine Enttäuschung. Es wäre mehr drin gewesen. Um die Besetzung genauer zu definieren, es sind Tunde Adebimpe (Kopf von TV On The Radio), Doseone (z. B. von Themselves, 13&God) und eben Patton (Mr. Bungle, Faith No More, Tomahawk, etc.), die sich als Nevermen zusammenfinden.

Artrock, Arthiphop und akustischer Wahnsinn verbinden sich auf dem selbstbetitelten Album der Nevermen. Wo die Drei zu den kreativsten Musikern ihrer Generationen gezählt werden können, so ist das Album doch eher eine reichlich unspektakuläre, fast herkömmliche Platte geworden, die zwar sowohl Artrock, Rap und Patton’sche Klangwelten vereint, sie aber in einem erstaunlich poppigen Gewand präsentiert und leider in einer nicht übermäßig spannenden oder fordernden Version daherkommt. Möglicherweise beruht die latente Enttäuschung allein auf überhöhten Erwartungen.

Die akustischen Experimente wie auch die gesangliche und lyrische Vielfalt der drei Frontmänner sind in sich schon interessant und erreichen gelegentlich eine erstaunliche Eingängigkeit, doch alles in allem klingt das Aufeinandertreffen der drei klanglichen Perspektiven häufig zu wenig nach Erkundung neuer Klangwelten, sondern entweder nach undurchdachtem Zusammenschmeißen von Zutaten oder aber nach Crossover; und damit ist tatsächlich die 1990er-Jahre-Version gemeint, bei der Rap und Rock (oder im besseren Fall Metal) zu etwas kurzfristig Interessantem aufeinander trafen.

Sicherlich lässt sich die Mischung aus artifiziellen Rockrhythmen, vielfältiger Rhythmik, flächigen Synthesizern und Vokalakrobatik voller Interesse studieren. Es ist beeindruckend, wie Adebimpe, Doseone und Patton ihr Popgewand erschaffen. Nichtsdestotrotz ist die Platte für das reine Hören, das nicht zunächst einer tiefen Analyse dient, eher weniger interessant. Anders formuliert, das Nevermen-Album ist wie ein Kunstobjekt, das zwar vielleicht fasziniert betrachtet wird, das aber kaum einen bleibenden Eindruck hinterlässt, außer vielleicht beim Betrachten des Fotos: “Ja, das war … auch … interessant.”

Anohni – Hopelessness

Nicht wenige haben sehnsüchtig auf ein neues Album von Anohni gewartet. Auf “Hopelessness” stehen Hudson Mohawke und Oneothrix Point Never der vormaligen Frontfrau von Antony And The Johnsons zur Seite. Schon diese Mitstreiter verdeutlichen: Anohni verabschiedet sich hier von Barockpop und Kammermusik. Andererseits aber unterscheidet sich “Hopelessness” doch nicht so sehr von ihrem vorherigen Schaffen, wie es die Sängerin in Interviews andeutet.

Bei aller Intensität und Beat-Orientierung der Produktionen ist Anohnis erstes Album unter neuem Moniker in keiner Weise ein Dance-Album. So sehr “Hopelessness” eine elektronische Platte ist, dominiert doch ihre Stimme und ihr Gesang den Eindruck bei den Hörenden. Dabei rückt dann die musikalische Untermalung in den Hintergrund, es erscheint unwichtig, ob hinter Anohnis ausdrucksstarkem, expressionistischem Gesang elektronische Beats oder kammermusikalische Arrangements erklingen. Die Wirkung der Platte ist ähnlich intensiv und beeindruckend wie bei den Alben von Antony And The Johnsons. Allerdings schwächelt sie auch gelegentlich. Dies geschieht vor allem in Momenten, in denen Anohni und Produzenten versuchen, das experimentell Elektronische vor die Stimme zu stellen. Das ist einerseits in “Violent Men” der Fall, das mindestens deplatziert wirkt. Es trifft aber insbesondere auf “Obama” zu, dessen düster schwangere Synthie- und Basskaskaden zwar durchaus zu gefallen wissen, in dem aber zudem Anohnis üblicher Gesangsstil einem Quasi-Schamanischen weichen muss, das mindestens in seinem Leiern misslingt und nervt, vielleicht aber auch noch schlechtere Eindrücke hinterlässt.

Neben diesen musikalischen Missgriffen leidet “Hopelessness” auch unter der politischen Aufladung der Platte. Anohni schreibt und singt hier getrieben von Wut und aus Erschöpfung über den Zustand der Welt. Titel wie “Drone Bomb Me”, “Obama”, “Violent Men”, “Execution”, “Crisis” oder “4 Degrees” – letzteres eine Klimawandel-Aufklärungs-Hymne – sprechen Bände.

Dabei klingt die Musik durchaus nicht ausschließlich trist und depressiv, was andeuten mag, dass Anohni nicht ganz so hoffnungslos ist, wie es der Albumtitel vorgaukelt. Dieser scheinbare Mangel an Vereinbarkeit zwischen Musik und Inhalt erlaubt es den Hörenden, Anohnis Versuch zu ignorieren, uns im Angesicht des Leidens des Hier und Jetzt aufzurütteln.

Es geht der Welt mies und es besteht die Gefahr, dass es die nächsten Jahrzehnte deutlich bergab geht. Dies ist Anohnis Botschaft, und es ist etwas, das den meisten Adressaten ihrer Platte vollkommen bewusst sein dürfte. Anohni verdient Bewunderung für ihr Bemühen, diese Botschaft in eine Popplatte, in ein Elektro-Album zu verpacken. Allerdings rennt sie damit wohl offene Türen ein, und wird dennoch keinerlei Veränderung erzielen. Wir sind uns unserer Schuld bewusst, fühlen uns aber ohnmächtig, etwas zu ändern, verschieben das Handeln auf morgen und genießen lieber das heute, wo es uns persönlich noch gut geht und das Leiden räumlich und zeitlich durch einen Bildschirm von uns getrennt ist.

Anohnis “Hopelessness” ist eine tolle Elektropop-Platte. Sie gelingt jedoch nicht wegen ihrer Botschaft. Sie überzeugt trotz ihrer bedeutungsschwangeren Aufladung. Hudson Mohawkes und Oneohtrix Point Nevers Produktionen sowie Anohnis Gesang sind weitgehend von solch überzeugender musikalischer Qualität, dass die Texte kaum wahrgenommen werden im Gehirn.

Sia – This Is Acting

Wer sich fragt, warum so viel Popmusik so ähnlich klingt, merkt schnell, dass einer der Gründe nicht so sehr ist, dass die Nummern einer Formel folgen, die relativ einfach zu erlernen scheint, sondern viel mehr, dass die Tracks von den gleichen Leuten für die unterschiedlichsten Sängerinnen geschrieben werden. Eine der Personen hinter den Hits ist Sia Furler oder einfach Sia, die unter anderem Rihannas “Diamonds”, Beyoncés “Pretty Hurts” oder Britneys “Perfume” schrieb. Sia ist auch die Ausnahme von jener Regel, die besagt, dass die Maschinen hinter den Hits nicht selbst erfolgreiche Künstler sein können.

Der Nachfolger zu Sias bisher erfolgreichstem Album “1000 Forms Of Fear” aus dem Jahr 2014, das nicht nur in den USA auf Platz eins der Charts ging und dessen Hitsingle “Chandelier” auch hierzulande die oberen Bereiche der Charts erreichte, hört auf den Titel “This Is Acting”. Wüsste man nicht, wer Sia ist, würde man die Platte dennoch sofort mit Künstlern wie Rihanna, Beyoncé oder Zara Larsson vergleichen. Anders formuliert, würde man “This Is Acting” automatisch in eine Reihe mit dem durchschnittlichen internationalen Pop der letzten etwa zehn Jahre stellen. So nutzt Sia also dieser Tage ihr Wissen um die Formel des Pophits für die eigenen Zwecke. Allerdings kann – wie man bei Grimes letztes Jahr sah – aus dieser Formel wirklich Großes entstehen, und Sias aktuelles Album auf Formeln zu reduzieren, führt auch nicht zwangsweise weiter.

Laut Guardian sind die Stücke auf “This Is Acting” mehrheitlich ursprünglich für andere Künstler geschrieben worden. In der Tat ist der oben bereits erwähnte Vergleich zu Rihanna manchmal so naheliegend, dass man wirklich denkt, die ein oder andere Nummer müsse von Rihanna gesungen beziehungsweise für sie geschrieben sein. All dies macht klar, “This Is Acting” als Album ist gefüllt mit Popsongs, wie sie eh schon 24 Stunden im Radio und im letzten verbliebenen Musik-TV laufen. Auch wenn die Stücke zum Teil vielleicht roher produziert sind als manch vergleichbare Nummer, zielen sie doch ganz typisch rhythmuslastig und mit latent übersteuerter Stimme mal mehr auf die Partylaune, mal mehr auf die großen Gefühle. Wer das aushält, und es ist gut auszuhalten, oder wer daran sogar großen Gefallen findet, und es ist sehr gefällig, dem wird Sias nunmehr siebtes Studioalbum viel Vergnügen bereiten. Alle anderen wird es anstrengen, nerven, auditiv belästigen. Die Entscheidung, zu welcher Gruppe man gehört, ist übrigens einfach, wenig auf dem Album erreicht die Qualität der ersten Vorabsingles “Bird Set Free” und “Alive”, die – wie relativ üblich – das Album auch eröffnen, um selbst die ungeduldigsten Hörer sofort zu beruhigen.

Anna Ternheim – For The Young

Anna Ternheims Musik ist wie eine On-off-Beziehung. Man mag sie einige Zeit ignoriert haben, aber trifft man wieder auf sie, ist man sofort wieder entzündet. So fällt es kaum auf, dass ihr letztes Album bereits im Jahr 2011 erschien. Dieser Tage erscheint hier der Nachfolger “For The Young”, der international im November 2015 veröffentlicht wurde. “For The Young” entstand während und nachdem Ternheim versuchte, ihre Schreibblockade in der Heimat Stockholm und in Buenos Aires zu überwinden, bevor sie in ihre Wahlheimat New York zurückkehrte.

Auch wenn also einige Jahre vergangen sind, ist es, als habe man sie dennoch gestern erst gehört. Gitarre, zarte Streicher, etwas Schlagzeug und Ternheims Gesang nehmen fast so gefangen wie vor zehn Jahren, als das Debütalbum endlich auch in Deutschland erschien. Ternheim präsentiert weiter zarte Singer-Songwriter-Musik, die ganz viel vom Folk in sich trägt und ein klein bisschen vom Jazz. Auch diesmal entsteht so wieder eine Platte voller Zauber, die in ihrer poppigen Eingängigkeit eigentlich lange gefallen sollte.

Der Hall auf Ternheims Stimme ist ein wenig zurückgenommen, die Stücke sind ein kleines bisschen weniger ohrwurmtauglich, die Musik zwingt dazu, ein bisschen genauer ihre Feinheiten, ihre Schönheit zu erfassen. Bei allem Zauber ist “For The Young” spröder als Ternheims ältere Veröffentlichungen. Im Vergleich zu den direkten Vorgängern ist die Platte ein Schritt zurück, weg von den ‘großen’ Kollaborationspartnern. Das bisschen Tennessee, das sich zuletzt in Ternheims Musik fand, wurde wieder durch schwedische Schären ersetzt.

Ternheim stellt das stärkste Stück, jenes, das die Herzen der Hörer sofort packt, an das Ende des Albums, statt damit zu beginnen. So will man „For The Young“ dann, nachdem der letzte Ton verklungen ist, doch sofort wiederhören, obwohl es weitgehend nur ein einfaches, ein einfach nettes Album ist, das ohne Hits sich den klassischen Popstrukturen widersetzt.

Jochen Distelmeyer – Songs from the bottom, Vol I

Bei der Ankündigung eines Albums mit Coverversionen lässt sich bei einem jeden Künstler fragen, wer das braucht, was das soll. Auch ein neues Album von Ex-Blumfeld-Kopf Jochen Distelmeyer mag bei der einen oder anderen für Stirnrunzeln sorgen, war doch das Solo-Debüt mit einigem Abstand betrachtet vielleicht nicht so ganz so gut wie im ersten Moment geschrieben. Ein Coveralbum von Jochen Distelmeyer kann dennoch durchaus Erwartungen wecken, waren Coverversionen doch immer Höhepunkte der Blumfeld’schen Konzerte. Allerdings handelt es sich bei “Songs From The Bottom Vol. I” weder um ein Blumfeld-Album, noch befinden wir uns in einer Live-Situation.

Um es gleich festzustellen, so negativ manches hier klingen mag, besitzt Distelmeyers zweites Solo-Album durchaus einen gewissen nicht von der Hand zu weisenden, seltsamen, um nicht zu sagen absurden Charme. Nichtsdestotrotz gibt es wahrscheinlich nur wenige, die dieses Album brauchen oder es auch nur wirklich gut finden werden. Distelmeyer präsentiert Stücke von Joni Mitchell, Lana Del Rey, Britney Spears, Radiohead, Avicii und anderen. Er präsentiert all seine Versionen in einem sehr ruhigen, reduzierten Vortrag. Einerseits verdeutlicht dies die Stärke der Originale, andererseits gerät die Platte dadurch zum einen eher dröge, zum anderen bekräftigt dieser Fokus auf der Kernsubstanz der Ur-Versionen die Einschätzung, dass “Songs From The Bottom” ein eher unnötiges Album ist – so übermäßig unfair eine solche Bezeichnung einem Künstler gegenüber auch immer ist.

Der erwähnte absurde Zauber dieser Distelmeyer-Platte zehrt sich aber ebenfalls gerade aus dieser Reduziertheit. Für Blumfeld- und Distelmeyer-Fanboys und -Fangirls entfaltet die Verbindung aus Distelmeyers Gesang und den ursprünglichen harmonischen, melodischen und zum Teil auch textlichen Stärken der Stücke potentiell einen Gegensatz und eine Spannung, die sich nicht etwa im wiederholten Hören abbaut, sondern eher noch verstärkt. Dafür mag Britneys “Toxic” als Vorabsingle durchaus beispielhaft stehen, darüber hinaus aber ist der bluesartige Vortrag dieses Stücks eher untypisch für das Album.

Die Stärke dieser “Songs From The Bottom” ist die Qualität der Melodien und Harmonien in den Originalen, ihre schwer nachvollziehbare, aber reale Faszination zehrt sich daraus, Jochen Distelmeyer diese Texte in seinem typischen Stil singen zu hören, und dabei die vielfach allzu vertrauten Harmonien und Melodien zu hören. Nichtsdestotrotz ist “Songs From The Bottom” weder ein wirklich interessantes oder gutes Album. Aber irgendwas hat es.

Rihanna – Anti

Rihanna hat sich an Beyoncé orientiert. Sie hat ihr – in manchen Kreisen – lang erwartetes achtes Studio-Album “Anti” – mehr oder weniger – überraschend und ohne klare Vorankündigung veröffentlicht. Nicht weniger überrascht sie zudem damit, dass die Platte keine der letztjährigen Singles enthält. “Anti” ist frei von “FourFiveSeconds”, “Bitch Better Have My Money” und “American Oxygen”. Es stellt sich die Frage, ob dieses einer gewissen Erwartung Widersetzen das Einzige an Rihanna ist, was “anti”-irgendwas ist.

“Anti” hat dennoch einiges gemein mit den drei Stücken aus dem Jahr 2015. Auch das nun erhältliche Produkt ist eine eher wilde stilistische Mischung und dennoch – oder gerade deshalb – ist es typisch und unverwechselbar Rihanna. Allerdings ist natürlich „typisch Rihanna“ eine schwer fassbare Klassifikation in einer Welt, in der multiple Rihanna-Klone von ihr kaum zu unterscheiden sind, und auch der Unterschied zwischen ihr und Beyoncé objektiv zwar erkennbar, aber subjektiv marginal ist, in einer Welt also, in der ihre Songschreiberinnen ähnliche oder nahezu identische Produkte auch an andere Interpretinnen verkaufen.

Wenn man bereit ist, Rihanna und “Anti” überzubewerten – und nach “American Oxygen” und “Bitch Better Have My Money” ist dies verlockend – ist diese Platte der Höhepunkt der Entwicklung des Pops der letzten Jahre. Mit dieser Platte sind die Entwicklungen der EDMisierung des Pop wie auch der Alternative-R’n’B’sierung des Pop abgeschlossen. Mit dem Erscheinen von “Anti” kann in beiden Sub-Entwicklungen wenig mehr passieren.

In der Tat gehen die Produktionen auf Rihannas achtem Album über das hinaus, was wir in den letzten Jahren im EDM- und R’n’B-inspirierten Radio-Pop gehört haben. Die Produktionen emulieren experimentelle elektronische Musik – naja, Postdubstep und elektrischen Dancehall – weit über das hinaus, was die typischen EDM-Popper bereit sind, an Wagnis einzugehen. Nach eigenen Aussagen wollte Rihanna mit “Anti” mehr Musik präsentieren, hinter der sie selber steht, die ihr selber mehr zusagt. Sängerin und Musikkonsumentin Rihanna sollten mehr miteinander übereinstimmen. Einerseits verwundert es dann, dass die Grundstimmungen weiterhin gleich sind, das heißt Pop, Electro, R’n’B und Dancehall sind weiterhin Rihannas Markenzeichen, andererseits erklärt dies aber, wie es eine Tame-Impala-Coverversion auf “Anti” schafft. Allerdings ist “Coverversion” eine falsche Umschreibung für “Same Ol’ Mistakes”, das im Grunde identisch mit Tame Impalas “New Person Same Old Mistakes” aus dem letzten Jahr ist, abgesehen von Rihannas Gesang.

“Anti” ist subjektiv voller Hits, die sowohl im Radio funktionieren als auch das Indie-Publikum ansprechen mögen. Andere mögen einen Mangel an klassischen Rihanna-Party-Tracks diagnostizieren, aber sowohl “Work” als auch “Consideration” sollten durchaus für die ‘Dancehall’ taugen. Als klassische Ballade bietet sich wiederum nicht nur “Never Ending” an, das um Didos “Thank You” aus dem Jahr 2000 herumgestrickt wurde. “Love On The Brain” wiederum erinnert fast eher an Adele oder Duffy denn an Rihanna. Es sei angemerkt, dass, wie fast zu erwarten, die Platte gegen Ende deutlich nachlässt.

Als Fazit zu Rihannas achtem Album bietet sich eine Zeile aus der Albumeröffnung “Consideration” an: Let me cover your shit in glitter / I can make it gold. Hier findet sich wenig Mist, aber relativ viel Gold – und einiges mehr, das zumindest mittelfristig wie Gold erscheinen wird. “Anti” ist ein wirklich gutes Pop-Album, eines, das mehr Wagnisse eingeht als 90% der Rihanna-Klone zusammen. Mehr war kaum zu erwarten.

Prinz Pi – Im Westen Nix Neues

Einmal mehr veröffentlicht der unbeliebte Junge mit der Kackfrisur eine Platte für die, die seine Zeilen verstehen. Prinz Pi aka Friedrich Kautz geriert sich weiter als ewiger Außenseiter und als der, der die Gefühle, Gedanken und das Leben der ihm Gleichenden in Worte zu fassen vermag und hat, so dass beim Tätowierer die Jobs explodieren. Der Promozettel nennt Pis HipHop “literarischen Rap” – vielleicht sollte Kautz ein Buch schreiben.

Die Probleme des aktuellen elften Kautz-Albums sind mannigfaltig. Sie fangen bei dem hochgestochenen Remarque-referenzierenden Titel “Im Westen Nix Neues” an, gehen über die Überlänge und den häufigen Mangel an Zusammenspiel zwischen Instrumentals und Raps bis hin zur gelegentlichen Formelhaftigkeit, Inhaltsleere und unnötigen Verklausulierung der Texte. Hinzu kommt der dauernde Fokus auf das eigene ewige Außenseitertum.

Das Gute am Album lässt sich aber auch nicht ignorieren und vermag manches der Probleme abzufangen. Zuvorderst sind Biztrams Beat- und Instrumental-Produktionen zu nennen, die im Regelfall von Hart bis Zart, von Extrovertiert bis Introvertiert die Stimmung der Tracks nicht nur spiegeln, sondern prägen. Sowohl im Melancholischen wie im Kämpferischen mögen sie zwar gelegentlich über das Ziel hinaus schießen und zu kitschig beziehungsweise zu platt konfrontativ sein, aber zumindest letzteres gehört nunmal auch zum Rap dazu. Natürlich gibt es auch wieder diese Zeilen, die einen in der eigenen, egal ob studentischen oder mitt- bis enddreißiger Lebenssituation reflektieren.

Alles in allem aber – und dafür ist Kautz zu bewundern – bestimmen Pis eigene Erlebnisse, eigenen Gedanken die Texte. Die Raps sind aus seiner Welt gegriffen und auch nur für diese gültig. Kautz traut sich, sein Inneres nach Außen zu kehren. Diese Texte wiederum sind zudem ungefähr so verkopft und doch abgegriffen, als habe jemand versucht, große Bilder und Literatur zu schaffen, es fehlen aber die sprachlichen Möglichkeiten.

“Im Westen Nix Neues” ist ein Album, das die Zielgruppe sicherlich erreichen wird. Es ist möglich, dass sie sich mit den selbstrefenziellen Texten weniger identifizieren kann als noch bei den Vorgängern, aber die verbleibende Identifikationsfläche sollte immer noch ausreichen und den Rest dürften Biztrams Produktionen kompensieren. Im Versuch, die Platte möglichst objektiv zu bewerten, ist sie weder sonderlich schlecht noch besonders gut.

Jozef van Wissem – When Shall This Bright Day Begin

Wenn ein Album vornehmlich aus dem Spiel einer Laute besteht, kann man es wohl als minimal bezeichnen. Im Fall von “When Shall This Bright Day Begin” wäre das also Minimal Folk. Was Jozef van Wissem allerdings mit wenigen Effekten erreicht, klingt dennoch gelegentlich eher maximal. Und es klingt dunkel.

Van Wissem ist wohl am ehesten bekannt durch seinen Soundtrack zu Jim Jarmuschs Film “Only Lovers Left Alive”. Mit Jarmusch hatte er bereits zu Beginn dieses Jahrzehnts zwei Alben veröffentlicht. Bei den Aufnahmen zu “Only Lovers” arbeitete Van Wissem auch mit Nika Roza Danilova aka Zola Jesus zusammen und Danilova trägt nun auf “This Bright Day” zu zwei Stücken bei.

Van Wissem verlässt sich weitgehend auf sein eigenes Lautenspiel, das, mit ein bisschen Hall versehen, schon einen raumfüllenden Klang erreicht. Die Kompositionen sind ebenfalls eher traditionell und einfach gehalten. Streckenweise finden sich leicht verzerrter Gesang und wiederholt nutzt Van Wissem Interviewfetzen und erzeugt so den Eindruck einer Spoken-Word-Performance. In der Albumeröffnung nimmt Zola Jesus‘ Stimme die Rolle einer ambienten Synthesizerfläche ein, und Danilovas Gesang unterstützt “Ruins”.

Mit diesen reduzierten Mitteln erschafft Van Wissem dennoch ein faszinierendes, minimalistisches Album. Es fesselt nicht nur trotz, sondern dank seiner Einfachheit. Van Wissem vermag aus einfachsten Mitteln eine Klangwelt zu errichten, in der man sich verlieren kann.

Yuck – Stranger Things

Yucks drittes Album “Stranger Things” ist ein willkommener frischer Wind in der zuletzt gehörten Musik. Das überrascht allerdings, wirft es einen doch eigentlich zurück in die mittleren 1990er Jahre. Die Band um Max Bloom präsentiert hier einen eingängigen und durchaus mitreißenden Alternative-Rock, der an einigen Stellen Noise-infiziert ist und an anderen Stellen an College-Rock und Power-Pop erinnert.

Diese Musik besitzt einen zeitlosen Charakter. Immer wieder versuchen Bands und vermag die ein oder andere Gruppe den mal verzerrten, mal poppigen Charme der Bands zwischen Sonic Youth und Weezer, The Lemonheads und Pavement einzufangen. Auch Yuck gelingt dies auf gelegentlich beeindruckende Art und Weise. Die Melodien sind wunderschön, die Gitarren und Stimmen sind angenehm grob und verzerrt.

Problematisch wird es nicht nur, wenn Hörer bei „As I Walk Away“ sich ab dem ersten Ton fragen, ob das nicht eine Cover-Version sei. Derart extrem stellt sich diese Frage im Verlauf der Platte sonst nicht. Aber es drängt sich allgemein der Eindruck auf, dass Yuck vielfach nicht nur den Klang des geräuschvollen Indie-/Alternative-Rock adaptieren, sondern auch allgemein eher sehr nah an den Originalen sind. „Stranger Things“ ist weit mehr als ein reiner Abklatsch, aber es scheint dennoch zu wenig originär Eigenes zu geben.

Hinzu kommt, dass es den Stücken bei aller Qualität an irgendetwas fehlt. Das gewisse Etwas geht ihnen ab. Wenn sie poppig sind oder einen Ohrwurm-Charakter zu entfalten drohen, mangelt es an dem Haken, der sie dann tatsächlich ganz tief im Gehörgang verankert. Wenn sie eher roh und ungeschliffen zum Noise tendieren, setzen sie nicht den einen Glanzpunkt, der das Stück im Gedächtnis verankert. Es ließe sich schreiben, Yuck gingen nur den halben Weg, und die Hörer blieben enttäuscht zurück.

„Stranger Things“ ist ein gutes Album. Es macht Spaß. Es wirft einen in die Vergangenheit und erscheint dennoch generell wie ein frischer Wind. Nichtsdestotrotz bleibt am Ende ein schaler Beigeschmack, stellt sich die Frage: „Das war’s schon?“

Jherek Bischoff & Amanda Palmer – Strung Out In Heaven: A Bowie String Quartet Tribute

Jherek Bischoffs und Amanda Palmers “Strung Out In Heaven”-EP ist ebensosehr ein Tribut an David Bowie wie an die Autonomie, die neue Finanzierungsmöglichkeiten im Netz Künstlern ermöglichen können – solange sie die nötige Basis internet-affiner Fans besitzen. Ohne ihre Unterstützer bei Patreon.com wäre Palmer nicht in der Lage gewesen, innerhalb weniger Wochen Musiker, Künstler, Studio und Techniker zu organisieren und zu bezahlen. Sie und Jherek Bischoff hätten ohne Palmers Patrone nicht die eigenen frischen Wunden der Trauer so effektiv heilen können, indem sie sich vollkommen dem hingaben, was David Bowie ihnen bedeutete.

“Heroes”, “Helden”, “Blackstar”, “Space Oddity”, “Ashes To Ashes” und “Life On Mars” sind die Stücke, die Bischoff und Palmer zusammen mit unter anderem Anna Calvi und John Cameron Mitchell für “Strung Out In Heaven: A Bowie String Quartet Tribute” aufnahmen. Diese Auswahl und die rücksichtsvollen Arrangements ihrer Versionen sind zuvorderst einfach eine Hommage an die Musik Bowies, sie zeigen zudem aber auch, in welchem Maße die Person und die Musik Bowies die alternative Pop-Musik geprägt haben, wie sehr die ‘Spinner’ Ian Curtis, Bernard Summer, Robert Smith, Anne Clark, Fehlfarben, DAF und, mehr in der Gegenwart, Jamie Stewart, Amanda Palmer, Neil Hannon oder Nika Roza Danilova nicht nur durch Person und Schaffen beeinflusst waren, sondern wie ihnen durch seine Vorarbeit die Möglichkeit gegeben wurde zu erreichen, was sie erreichten.

Die Besonderheit der präsentierten Arrangements, ihre Qualität und der Grund, warum sie so emotional ergreifen, liegt zu einem großen Teil begründet in Bischoffs Streicherarrangements. Sie betonen harmonische – oder im Zweifel auch disharmonische – und melodische Eigenschaften der Songs, ihnen gelingt tatsächlich, den durchaus altbekannten Stücken neue Facetten zu entlocken. Sie schaffen es, die von den Stücken hervorgerufenen Gefühle zu maximieren. Dies ist in kaum einem Moment mehr zu spüren als in der rein instrumentalen “Life On Mars”-Version, wobei auch die “Ashes to Ashes”-Variante nicht zuletzt dank der Streicher unbedingt fasziniert.

“Ashes to Ashes” zeigt aber auch einen weiteren Grund für die außergewöhnliche Qualität der Interpretationen, nämlich die Vocals. Während der Gesang insgesamt nah am Original ist, nehmen sich alle Beteiligten (Palmer, Calvi, Gaiman, Mitchell) doch immer wieder die Freiheit, den Texten ihrer Bedeutung im Kontext und ihren rhythmischen Qualitäten maximale Geltung zu verleihen. Besonders Palmers Gesang merkt man an, welche Bedeutung diese Arbeit für sie hat.

“Strung Out In Heaven” lebt nichtsdestotrotz vor allem von der Qualität der Originale, von der Intensität, die, zum Beispiel “Blackstar”, “Helden” oder “Ashes To Ashes” von je her innewohnt. Die EP überzeugt nicht, weil sie ein Tribut an Bowie einen Monat nach seinem Tod ist, sie überzeugt, weil sie mindestens die Essenz der Stücke erhält, vielfach und insbesondere dank der Streicher neue Aspekte offenbart, und uns die erwähnte Essenz im Fall von “Life On Mars” sogar potenziert verabreicht.

Auch im Fall von “Strung Out In Heaven” stellt sich die Frage, welchen Wert eine Platte voller Cover-Versionen hat. Es kann zudem gefragt werden, ob eine Tribut-EP nur einen Monat nach Bowies Tod nicht übereilt ist, nicht einfach nur Eigenwerbung ist. Allerdings darf im Fall von Palmer, Bischoff und den weiteren Beteiligten durchaus davon ausgegangen werden, dass diese EP zuallererst Teil der eigenen Trauerarbeit ist. Sie ist zudem eine hervorragende Erinnerung an und Verbeugung vor Bowie und bietet als solche ein Mittel zur Trauerbewältigung für jene, denen Bowies Krebstod noch immer schwer auf der Seele liegt. Darüber hinaus ist es eine fantastische EP voller seltsamen Pops zwischen Kunst, Kabarett, Punk und klassischen Streichern, eine EP, die nicht sobald langweilig werden wird.

Baauer – Aa

Mit etwas Abstand ist Baauers erstes Album „Aa“ gar nicht so schlecht, wie es zunächst erscheint. Gut ist es dennoch nicht. Unzeitgemäß ist es zudem. Dies ist nicht zuletzt der Fall, weil seit Baauers Hit „Harlem Shake“ inzwisschen knapp vier Jahre vergangen sind.

Harry Bauer Rodrigues aka Baauer nennt „Harlem Shake“ inzwischen „abgedroschen und zum Kotzen nervig“. Mit unter anderem M.I.A, Pusha T und Rustie an seiner Seite ließ sich hoffen, „Aa“ könne einem ähnlichen Schicksal entgehen. Die Hoffnung war leider nicht angebracht, denn auch sein Debüt-Album könnte man durchaus als abgedroschen bezeichnen.

Wahrscheinlich sollte es Baauer hoch angerechnet werden, dass er sich Zeit gelassen hat, statt 13 Harlem-Shake-Klone rauszurotzen, dass er seinen Bass-HipHop-Trap-Electro-Wurzeln treu geblieben ist, statt den einfachen Weg eines EDM-Albums zu gehen. Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Tatsachen ist es schwer darüber hinwegzusehen, wie Baauer hier augenscheinlich – und unter Umständen sogar unbewusst – haarscharf an klaren Kopien vorbeischrammt. Es ist nicht unbedingt immer klar, was er hier fast kopiert, aber vieles klingt schon allzu vertraut. Trap mag auch im Jahr 2016 noch angesagt sein, Baauers Versuche, Baile Funk, Worldbeat, HipHop und Electro zu vermischen, klingen dennoch angestaubt oder zumindest unoriginär. Zudem kommen sie mindestens acht Jahre zu spät, wenn man Diplo, Bonde do Rolê oder M.I.A als Maßstab nimmt. Nimmt man Missy Elliott als Maßstab, die offensichtlich auch einen riesigen Einfluss für Baauer darstellt, so kommt „Aa“ mindestens 15 Jahre zu spät. Die Pusha T und Future Kooperation „Kung Fu“ wiederum ist ununterscheidbar vom Durchschnitt des heutigen Radio-Dance-HipHops.

Allerdings hat natürlich mangelnde Originalität noch nie irgendjemandes Erfolg beeinflusst oder den Spaß an einem Lied getrübt. Blendet man aus, wie vertraut Baauers Produktionen auf „Aa“ klingen, kann das Hören durchaus unterhalten. Er kann eben ohne Zweifel den Wunsch zum Tanzen auslösen.

Die erste, zweite und dritte Reaktion auf Baauers „Aa“ mag sein, die Hände vors Gesicht zu schlagen und schluchzend „Wieso?“ zu fragen. Die vierte Reaktion mag dann aber tatsächlich gut unterhaltene Körperbewegung – aka Tanzen – sein. Baauers Debütalbum ist eine ziemlich nervige Platte, der man sich vielleicht dennoch nicht erfolgreich und auf Dauer entziehen kann.