Cecil Taylor – Conquistador

Juni 2005:

1
Ich bin kein Jazzer. Ich bin Popper, vielleicht ein bisschen Rocker und ganz viel Nerd, kaum Fan, eher Liebhaber.

2
Mein Interesse am Jazz entstand auf zwei Ebenen.
a) Die Plattensammlung meiner Eltern umfasst neben viel Klassik (v. a. Mozart und Romantik) einige Alben des melodischen Jazz and Blues, sowie ein wenig Swing und Gospel.
b) In der Popmusik der letzten 15 Jahre entdeckten immer mehr Musiker ihr Interesse am Jazz, oder zumindest an Jazz-Einflüssen. Dies reicht von einigen Samples über ganze jazzartige Alben bis zum Remix alter – vor allem Bossa Nova – Stücke.

3
Dies ist Jazz. Dies ist Free Jazz, Avantgarde Jazz.

4
Cecil Taylor – Conquistador! (new Edition © 2004)
Conquistador 17:51
With (Exit) 19:17
[With (Exit) 17:21 – alternate take, not part of original LP]

Recorded October 6, 1966

Bill Dixon, Trompete
Jimmy Lyons, Alt Sax
Cecil Taylor, Piano
Henry Grimes, Alan Silva, Bass
Andrew Cyrille, Schlagzeug

5
Conquistador! ist ein anspruchsvolles Album, es zu verstehen, es genießen zu können, verlangt – leider – ein Verständnis des Künstlers. Ohne Wissen um Cecil Taylors Arbeitsweise – die dieses Album und den Künstler erst für mich interessant machte – steht man ziemlich ratlos davor. Zwischen hochmelodiösen und mitreißenden Passagen – wobei Passage hier für alles zwischen drei Sekunden und einer Minute stehen kann – und fast amelodischen Strecken wird gewechselt. Das mag als Untermalung eines Films – Fiktion oder Dokumentation – jederzeit funktionieren, als Musik zum einfach nur Anhören verlangt es Verständnis und Interesse.

6
http://www.zeit.de/2004/18/Taylor

7
… war es, das mich auf Taylor aufmerksam machte. Allerdings gedruckt. In einem IKEA-Sessel sitzend. Rauchend. Vielleicht auch einen Aberlour in der Hand. Das würde stimmungsmäßig passen.

8
Doch dieser Artikel in der Zeit fasst nicht so gut das, was diese Musik ausmacht, wie ein Zitat in den Original-Linernotes zu Conquistador!: „Jimmy Lyons – Saxophonist auch bei Conquistador! – sagte: ,Es hat mit der Art zu tun, mit der Cecil begleitet. Er hat Skalen, Muster und Harmonien/Melodien (tunes), die er nutzt, und der Solist soll diese Dinge mitnutzen. Aber Du kannst darüber hinausgehen. Falls Du Deinen eigenen Weg gehen willst, wird Cecil Dir dorthin folgen. Aber Du musst wissen, wo die Melodie (tune) hinführen soll, und falls Du sie dort auf einem anderen Weg hinbringst, als Cecil ausgewiesen hat, dann ist das cool für Cecil. Das ist die größte Sache die ich von Cecil gelernt habe, die Musik muss von innen kommen, nicht von irgendwelchen Notenblättern.'“

Die Linernotes umfassen weiterhin einen Versuch, die Linienführung der Stücke zu verbildlichen. Eine Aufgabe, die hier anders angegangen werden soll. Dem Zeitartikel wiederum ist zumindest noch eines zu entnehmen. Taylor probt exzessiv, nicht nur das Spiel, auch ganze Stücke, er probt sie, um sie dann mit seinen Mitmusikern in der Aufführung auseinander zu nehmen und neu zu erfinden.

9
17:54
Klaviertöne, Fingerübungen scheinbar, eine Figur, übernommen vom Saxophon, vom Bass, den Bässen, das Schlagzeug akzentuiert, trillert. Das Klavier gibt vor, zeigt den Weg. Trompete, Saxophon und Bass variieren.
Das Saxophon nimmt sich einzelne Teile, bremst sie aus. Während Schlagzeug und Piano eine hohe Geschwindigkeit halten, die Bässe im Hintergrund bleiben, beschleunigt das Saxophon langsam. Kaum merklich. Es überlagert im Vordergrund das Geschehen im Hintergrund. Den Hintergrund der unsere rechte Hörwahrnehmung bestimmt. Links das Saxophon. Wir steigern uns in einen kollektiven Taumel. Scheinbar unzusammenhängend tun alle ähnliches. Es wirkt asynchron, es wirkt gar amelodisch, schrill. Und doch ergibt sich ein Ganzes, das mitreißt. Das sich in Deinen Kopf versenkt, und dich untertauchen lässt in ihm.
13:09
Immer noch im Taumel, doch langsam beruhigt es sich, das Tempo wird reduziert, Piano und Schlagzeug bestimmen.
12:30
Sehr langsam übernehmen Trompete und Bass das Zepter, ein zweiter Bass sägt zart dazwischen. Das Piano wirkt als spiele es zwei unterschiedliche Stücke. Alle einzeln, über einen Takt, einen Takt Pause, versetzt. Fast Ende.
10:30
Eine neue Vorgabe des Klaviers. Erneutes Einspielen. Alle. Doch das Saxophon dominiert neben dem Klavier. Der Bass sägt weiter verspätet. Die Trompete unterstützt das Saxophon. Langsam trennt sich das ganze wieder. Wieder einzeln, taktweise, versetzt mit Pausen.
9:04
Schlagzeug und Klavier reizen sich. Sie spielen umeinander, sie umtanzen sich. Ein Kampf in Tönen. Ein Belauern. Eine Maschine, deren Teile abwechselnd in unendlichem Wechselspiel zusammengreifen. Nicht erkennbar ohne Zeitlupe. Die Bässe steigen ein. Vier Teile. Sie umschwirren sich. Das Klavier dominiert. Das Schlagzeug unterbricht scheinbar. Eine Melodie. Eine andere. Gleiche Töne, doch scheinbar entgegengesetzt. Durch kurze Figuren unterbrochen, wiederkehrend. Verwirrend. Eine Aufforderung sich gehen zu lassen. Sich schweben zu lassen. Ohne Angst vor dem Fall. Der tief sein kann.
4:57
Das Klavier abgehackt. Schlagzeug und Bass folgen ihren Figuren. Das Klavier abgehackt. Schlagzeug und Bass folgen ihm.
4:28
Das Saxophon steigt kurz ein. Das Klavier. Das Schlagzeug. Der Bass. Das Klavier tief. Ganz tief. Am Ende der Tastatur. Höher. Der Bass sägt, umspielt. Der andere gezupft. Sägen, zupfen. Das Klavier trillert.
3:05
Das Klavier ganz tief. Fast Schweigen. Ein Sägen. Jetzt Trillern. Tief. Hoch. Tief. Umspielt von Bässen, Trompete und Schlagzeug. Langgezogen. Einzelne Bläsertöne. Alles wird langsamer.
1:30
Alles begibt sich zur Ruhe. Die Bässe allein. Gegen- und doch miteinander.
1:02
Ruhe – fast. Einzelne Töne der Bässe. Treiben. Treiben umeinander
0:40
Wieder Klavier schnell. Gibt vor. Das Saxophon. Das Schlagzeug. Das Klavier treibt voran. Das Sax bremst.
Triller. Triller.
0:05
Ende

10
Wellen von Energie. Wellenartig umspielen sich die Instrumente, sie brechen linear. Sie verstärken sich nichtlinear. Deterministisch steigern sie sich in einen nahezu chaotischen Zustand. Doch im Chaos liegt Ordnung. Fraktal.
Wie Stoffbahnen umwehen sich die Instrumente. Jedes mit seiner eigenen Textualität. Samt. Seide. Wolle. Brokat. Leinen. Taft. Gaze.

11
19:21
Eine Eröffnung des Klaviers. Doch sofort übernimmt die Trompete das Zepter.
Insgesamt kommt With (Exit) harmonischer daher. Harmonie im Sinne es passt mehr. Die Figuren wirken teils weniger melodisch. Das Stück wirkt harmonischer. Ein Widerspruch – nicht hier. With – Mit – und doch wirkt es – trotz der „Harmonie“ – als seien die Instrumente selbstbezogen, selbstreflektierend und selbstverliebt – die Instrumente, denn von den Musikern lässt sich höchstens ihre Virtuosität erwähnen, die Musik bilden die Instrumente und ihre Töne. Die Musiker sind Beiwerk.
Beachtenswert ist, wie sich zwischendurch, die Trompete immer wieder heraushebt. Als müsse sie sich beweisen. Als wolle sie herrschen. Es wirkt wie ein Zirkus. Klavier und Trompete – Dompteur und Löwe. Der Löwe macht, was der Dompteur ihm gezeigt hat. Doch ist die Spannung, das Kunstwerk darauf angewiesen, dass der Löwe ein Eigenleben, einen eigenen Willen besitzt, dass er agiert, nicht bloß reagiert. Denn so entwickelt sich ein dynamisches Zusammenspiel. Ein Zusammenspiel, in dem man natürlich die anderen Instrumente und Musiker nicht vergessen darf.
11:31
Die Rolle der Trompete übernimmt nun das Saxophon. Ein anderes Tier, der gleiche Dompteur. Ein anderes Spiel. Mit einem aktiveren Schlagzeug als weiterem Akteur.
Das Tier wird immer aktiver. Es treibt immer mehr voran. Geht eigene Wege. Traut sich mehr. Der Dompteur – das Klavier – übernimmt ebenfalls mehr Aktivität, nicht um zu zäumen. Um zu motivieren, zu fördern, selbst neue Wege, Welten kennenzulernen.
6:00
Das Klavier dominiert. Das Schlagzeug bricht ein. Der Bass dringt vor.
Erleben. Erlebnis.
Melodien. Vielfach. Unstrukturiert. Lebend. Verschiedene Pulsschläge, die sich vereinen. Sex.
2:35
Der Ausbruch von allem. Leben. Gezähmt. In Bahnen gelenkt. Zitternd. Tastend.
Assoziationen. Assoziationsketten. Kaum zu ordnen. Schwebend. Durcheinanderschwirrend wie ein Mückenschwarm. Die Gedanken sind frei.
1:19
Es zittert weiter. Nähert sich einem Ende – oder einem letzten Ausbruch. Spannung warten. Warnende Trompeten. Das Schlagzeug beendet.
Doch Trompete und Klavier widersetzen sich. Begeben sich trauernd dann doch zur Ruhe. Unter dem Flirren der Bässe.
0:03
Ende

[12
17:24
Eigenes Erleben.]

13
Dies ist Free Jazz.

14
Ein anstrengendes Stück Musik. Fordernd. Zum Teil überfordernd. Sechs Musiker treiben sich und uns. Sie treiben uns und ihre Instrumente durch Emotionen, durch Erlebnisse, durch Verstehen und verzweifeltes Verstehenwollen. Ein faszinierendes Erlebnis, das nicht geeignet ist für jeden Tag. Eher für die tiefe – meditative – Beschäftigung mit einem Stück Musik.

15
[…] „Those who do not want music to shake them and to open new ways of feeling … will avoid Mr. Taylor, but the adventurous have startling surprises ahead.“ … Cecil Taylor is unquestionably one of the jazz masters. […]
– Nat Hentoff
original liner notes

16
In Verneigung vor dem Musiker als Typus, ebenso wie dem Maler und Zeichner, sowie dem Autor, dem Lyriker, dem Romancier, dem begabten Berichterstatter – und allen anderen Künstlern. Möge es gelungen sein.